Reem aus Syrien lebt jetzt – dank der Reporter von Lost – in St. Pölten.

Foto: Lost: The Story of Refugees

"Es war ein seltsam weichgewordenes Deutschland", schreibt Schriftsteller Navid Kermani, "das ich Ende 2015 verließ." Verlassen hat er dieses Deutschland, das sich damals noch in Willkommenskultur geübt hat, um zusammen mit dem Magnum-Fotografen Moises Saman und im Auftrag des Spiegel die Balkanroute der Flüchtlinge in umgekehrter Richtung zu bereisen – und erweist sich einmal öfter als brillanter Reporter und auch würdiger Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Er beobachtet mit unverstelltem Blick, spricht mit Flüchtlingen, Helfern und Politikern, zieht Schlüsse.

Seltsam historisch lesen sich nur ein halbes Jahr später manche seiner Beobachtungen, die er von Budapest bis zur türkischen Westküste gemacht hat, weil einem schmerzlich bewusst wird, wie unfähig die europäische Politik bisher agiert hat, wie sehr Europa drauf und dran ist, seine Grenzen dichtzumachen. "Im Jahr 2015 marschieren die Flüchtlinge durch Europa wie das Volk Israel nach der Flucht aus Ägypten", schreibt Kermani. Als er Anfang Dezember 2015 beim Überarbeiten seiner Reportage sitzt, ist ihm klar: "So spektakulär Deutschland im September die Willkommenskultur zelebrierte, so kollektiv scheint es sich drei Monate überfordert zu fühlen." Zeitgleich geht in Frankreich schon der Front National als strahlender Sieger aus den Regionalwahlen hervor, und in Polen hat sich die neue Regierung ausdrücklich zum Europa Viktor Orbáns bekannt.

Komplexe Zusammenhänge

Allemal lesenswertes Material hat auch Gerfried Sperl zum Thema Flüchtlinge für einen Reader seiner Vierteljahreszeitschrift Phoenix zusammengetragen. Dieser startet etwa mit einem Beitrag des Schriftstellers Ilija Trojanow, der selbst als Kind einer bulgarischen Familie 1971 nach Deutschland floh und in der aktuellen Flüchtlingskrise stets als "Betroffener" um seine Meinung gefragt wird. Die hat er auch, und sie ist nicht gefällig. Denn Trojanow wird als Autor nicht müde, uns mit dem Kopf auf "die komplexen Zusammenhänge und inneren Widersprüche unseres globalen Systems" zu stoßen. Die Konflikte in Syrien haben auch einen ökologischen Hintergrund. Das Land hat eine fünfjährige Dürre durchlebt. Trojanow: "Wir sollten darüber reden, was wir gegen den Klimawandel tun müssen, tun im Sinne von handeln, anstatt das dümmliche Mantra zu wiederholen: ,Wir können doch nicht alle bei uns aufnehmen!'" Das kleine Kompendium ist breit gefächert: Die Schriftstellerin Julya Rabinowich beschreibt für Sperls Band über ihre persönlichen Erfahrungen als Dolmetscherin für traumatisierte Flüchtlinge, vor allem Frauen. Die mittlerweile in Berlin lebende Publizistin Hazel Rosenstrauch schreibt über Rückkehrer aus der Emigration nach 1945. Und die mutmachende Rede von Josef Haslinger, mittlerweile Vorsitzender des PEN-Zentrums Deutschland, die er angesichts einer Flüchtlingsmatinee im Herbst 2015 im Burgtheater gehalten hat, ist hier für alle nachzulesen.

Ein Gemeinschaftsprojekt ist auch der Text- und Bildband Lost: The Story of Refugees, der ebenfalls noch vor Jahreswechsel erschienen ist.

Lost ist ein Kollektiv aus fünf jungen Reportern, Fotografen und Grafikern, die, wie sie in der Einleitung schreiben, "zeitgeschichtliche Geschehnisse, die für dieses Jahrhundert prägend sein werden, erleben. Es sind Geschichten, auf die man nicht gerne zurückblicken wird, aber die man gesehen und gehört haben muss. Nicht am Smartphone-Display ..." Dafür waren die jungen Chronisten in halb Europa unterwegs und haben aus der Nähe die Geschichten und Schicksale von Flüchtenden aufgeschrieben, vollkommen unabhängig und mit keinem Druck zur Erfüllung irgendwelcher Auflagen. Entstanden ist ein gleichermaßen zurückhaltend sachliches wie auch erschütterndes Panorama an Migrationsschicksalen, in denen nicht Sensationsgier, sondern Individuen im Mittelpunkt der Texte stehen. Der Bucherlös geht an Caritas und Unterrichtsprojekte. (Mia Eidlhuber, Album, 29.2.2016)