Hütten und Zelte wurden in Calais abgerissen.

Foto: AFP PHOTO / PHILIPPE HUGUEN
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Die Bagger kommen mit Geleitschutz. Schwer ausgerüstete CRS-Bereitschaftspolizisten stehen Spalier, um die Räumungsfahrzeuge und zwanzig Arbeiter der Firma Sogea vorzulassen. Sie reißen Baracken, Holzhütten und Zelte ein und räumen den Schutt weg.

Begonnen hatte die Aktion am Montagmorgen. Die schätzungsweise 3.000 Migranten des "Dschungels" – so der Übername der aus dem Sandboden geschossene Zelt- und Budenstadt – wurden auf dem falschen Fuß erwischt. An sich hatte die Präfektur des Departements Pas-de-Calais erklärt, sie lasse vorerst nur leer stehende Behausungen schleifen. Doch am Montag kamen zuerst Sozialarbeiter, die den Bewohnern eine Stunde Zeit zur Räumung gaben und Dokumente verteilten. Darauf konnten sich Interessenten für eines der 102 Auffangzentren in ganz Frankreich einschreiben.

Ziel: Großbritannien

Doch die Migranten wollen nicht in Frankreich bleiben, sie wollen nach Großbritannien– sei es zur Arbeit oder wegen der Familie. Nach einer mehrere tausend Kilometer langen Anreise stauen sie sich am Ärmelkanal; denn wegen massiven Sperrgürteln ist es ihnen fast unmöglich geworden, in Sattelschleppern auf Kanalfähren oder im Eurostar-TGV- durch den Eisenbahntunnel auf die britischen Inseln überzusetzen.

Die unhaltbaren Zustände in dem slumgleichen "Dschungel" haben die französischen Behörden nun zum Eingreifen gezwungen. Sie versuchen schrittweise die Kontrolle über das Terrain in den Sanddünen zurückzugewinnen. Schon im Dezember hatten sie das Lager durch eine hundert Meter breite Pufferzone von der Hafenzufahrt getrennt. Dann stellten sie beheizbare Wohncontainer zur Verfügung. Die Migranten ziehen aber die nasskalten Zelte vor: Sie wollen mit den französischen Instanzen gar nichts zu tun haben. Also befahl Innenminister Bernard Cazeneuve die Räumung des südlichen Lagerteils. Sie solle mit "Ruhe und Methode" von statten gehen, erklärte der ebenso stoische mit methodische Minister.

Allerdings kam es am Montagabend zu heftigen Zusammenstößen mit der Polizei. Vermummte Mitglieder der Anarchogruppe "No Border" legten an mehreren Orten Feuer und bewarfen die Polizei mit Steinen; Migranten enterten und blockierten die Zufahrtstrasse. Die Sicherheitskräfte antworteten mit Wasserstrahlern und Tränengas. Elf Polizisten wurden leicht verletzt, vier "No Borders"-Aktivistenverhaftet.

Ohne Zwischenfälle

Am Dienstag ging die Räumung vorerst ohne Zwischenfälle weiter. Präfektin Fabienne Buccio erklärte, der Abbau des Lagers werde "einen Monat" in Anspruch nehmen; angesichts der anhängigen Gerichtsklagen und politischen Proteste klingt das allerdings nicht sehr realistisch – sondern eher nach dem Wunsch der französischen Behörden, den "Dschungel" vor dem erwarteten Anschwellen der Migrantenzahl im Frühling ganz zu schließen.

Das Grundproblem des Flüchtlingsstroms wird allerdings durch die Räumungsoperation nicht gelöst. Nur 45 Migranten zeigten sich seit Wochenbeginn bereit, sich mit Bussen in Auffangzentren bei Bordeaux – 900 Kilometer von Calais entfernt – transportieren zu lassen und dort einen französischen Asylantrag zu stellen. Das behördliche Sammelzentrum beim "Dschungel" ist ebenfalls nicht voll belegt.

Lieber gehen die Flüchtlinge ihre eigenen Wege: Sie versuchen den Kanalsprung aus anderen Ferry-Standorten wie Cherbourg, Dieppe oder Dünkirchen – wo irakische Kurden seit ein paar Monaten ein zweites Lager namens Grande-Synthe gebildet haben. Oder sie passieren die offene Grenze nach Belgien und versuchen es dort aus einem Fährhafen wie Zeebrügge.

Damit geschieht das Gleiche wie 2002, als der damalige konservative Innenminister Nicolas Sarkozy ein umstrittenes Rotkreuz-Migrantenlager in Sangatte (westlich von Calais) geschlossen hatte: Die vertriebenen Insassen verteilten sich auf den ganzen Küstenstrich, um auf Umwegen doch noch nach England zu gelangen.

Die belgische Regierung sucht den Anfängen zu wehren: Sie hat als Reaktion auf die Räumung in Calais 300 Polizisten Zöllner aufgeboten, die illegale Einreisende stellen sollen. Beim ersten Mal werden sie nach Frankreich zurückverfrachtet, bei zweiten Mal in ein Asylzentrum gebracht. Mehr als 600 aus Calais gekommen Flüchtlinge wurden auf diese Weise schon nach Frankreich zurückgeführt.

Cazeneuve bezeichnete dieses Vorgehen als "seltsam", und die EU-Kommission klärt ab, ob das Prinzip der Verhältnismäßigkeit gewahrt sei. (Stefan Brändle, 1.3.2016)