Wien – Schlepper sind unzuverlässig. Eigentlich wollte Karim nach Paris, dafür hat er bezahlt. Dort hätte er bei einem Onkel unterkommen können und studieren wollen. Aber der Schlepper hat ihn in München rausgelassen, wo er von der Polizei aufgegriffen Asyl in Deutschland beantragen musste. Die erste Watsche für ein System, der noch viele weitere folgen werden: wegen Unterbringung und Arbeitserlaubnis, Sprachlernkursen oder der Zuweisung von Essenspaketen, die keine Rücksicht auf religiöse Ernährungsgebote nehmen.

Vier Jahre habe er an Ohrfeige geschrieben, erklärt Abbas Khider immer wieder, um jetzt, da der Roman Anfang Februar erschienen ist, klarzumachen, dass er nicht das "Buch der Stunde" werden sollte, als das jener seitdem oft bezeichnet worden ist. Es ist auch kein Buch zur aktuellen Flüchtlingskrise, sondern spielt Anfang der 2000er. Zur selben Zeit, als Khider selbst als politisch Verfolgter aus dem Irak nach Deutschland kam. Doch wenig habe sich seitdem an der Situation hier geändert, meint er.

Authentische Fiktionen

1973 in Bagdad geboren, hat Khider noch als Schüler begonnen, Flugblätter gegen das Regime Saddam Husseins zu verteilen. Mit 19 wurde er dafür inhaftiert, nach seiner Entlassung 1996 rettete er sich außer Landes. Er habe viel Glück gehabt, sagt er; seit 2007 ist er deutscher Staatsbürger. Hier hat er angefangen, Bücher über seine Erlebnisse im Irak, im Widerstand, in Haft zu schreiben. Auf Deutsch. Der falsche Inder (2008), Die Orangen des Präsidenten (2011) und Brief in die Auberginenrepublik (2013) sind noch in der kleinen Edition Nautilus erschienen. Mit seinem vierten Buch ist Khider zum großen Hanser Verlag gewechselt.

Wie die Bücher davor ist Ohrfeige aber nicht streng autobiografisch, sondern eine Fiktion voller authentischer Erfahrungen. So hat Karim Mensy etwa persönlichere Fluchtgründe als sein Autor sie hatte: Ihm sind in der Pubertät Brüste gewachsen. Im Ausland will er dem Militärdienst entgehen und das nötige Geld verdienen, um sie sich entfernen zu lassen.

Wie über Flüchtlinge sprechen?

Damit legt Khider auch den Ton des Buches fest, an dem sich nebenbei die Frage stellt: Wie darf/muss/soll/kann man über Flüchtlinge sprechen? – Ganz abgesehen von der zurzeit aufgeheizten Situation.

Die tragische Geschichte, die Ohrfeige zweifelsohne hätte werden können, ist es nicht, sondern kurios, grotesk und humorvoll trotz allen angebrachten Ernstes. Dafür verantwortlich auch die Erzählsituation: Karims Asylantrag wurde abgelehnt. Kiffend stellt er sich vor, wie er seine Sachbearbeiterin an deren Schreibtischstuhl fesselt und ihr seine Geschichte erzählt. Frau Schulz ist für ihn ein Gott, von dessen Gutwillen er abhängig ist. Abhängig war. Jetzt muss sie ihm, dessen Stimme sonst untergeht, zuhören.

Anschaulich und eingängig

In einfachen Sätzen voller Sprachbilder lässt Khider die drei Jahre und vier Monate seiner Hauptfigur in Deutschland, genauer: in der bayrischen Provinz, wo Bier wie "Weihwasser mit Schaum" verherrlicht wird, Revue passieren. Überraschend gut schneidet Niederhofen zwar im "Dönerbudenindex" ab – einem Ranking unter den Asylanten, wie viele Türken und damit Dönerbuden es an einem Ort gebe. Je mehr Dönerbuden, desto besser. Aber Fremdsein und Vorurteile sowie Stumpfsinn und Abhängigkeit prägen den Alltag des jungen Irakers und seiner Mitbewohner im Heim: am "mesopotamischen Flur", im "Christenblock", im "afrikanischen Eck" genauso wie in der "Orient-Express-Haltestelle".

Ohrfeige gibt Einblick in die Praxis des Flüchtens: es klärt über die wahre Funktion von Kulturvereinen auf, berichtet von in Kleidern eingenähtem Geld, Überlebensstrategien im einem "Ungeheuer" gleichenden europäischen Winter und davon, wie schwer die Sehnsucht nach Normalität wiegen kann, während man zum Nichtstun verdammt ist. Es gibt weniger Arbeitsstellen für Asylwerber als Sexangebote von greisen Männern. Ein Job auf der Müllkippe gibt Karim ein bisschen Ordnung und Freiheit.

"Vergessene Barmherzigkeit"

Der Autor zeigt Menschen. Seine Flüchtlinge lügen den Behörden das vor, von dem sie wissen, dass jene es hören müssen, damit sie bleiben dürfen. Seine Ämter und Betreuer sind oft überfordert oder gleichgültig. Es kann fast nicht anders gehen, als schief. Und doch geht es immer wieder einmal gut. Wenn auch nicht für alle. Was einem leid tut, weil Karim und die anderen einem sehr sympathisch werden. Als die Individuen, als die Khider sie zeichnet, obwohl er dabei gerne mit Klischees von Flüchtlingstypen spielt. Denn es gebe eben gute und weniger gute Flüchtlinge, meint er, gleich wie bei den Menschen hier.

Und so ist Ohrfeige kein emotionales Ausschlachten, sondern ein schalkhaftes Gustieren, ein Schmökern Khiders nach Situationen, die er präzise benennt und mit großer Leichtigkeit und Erzählfreude beschreibt.Die große Tragweite steht selten im Vordergrund der Szenen, aber sie ist angelegt. So wie der Name des Protagonisten übersetzt "vergessene Barmherzigkeit" bedeutet. Schmunzelnd, auflachend und mit Kopfschütteln liest man das. (Michael Wurmitzer, 28.2.2016)