Regisseur Gianfranco Rosi mit Jury-Präsidentin Meryl Streep.

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Gianfranco Rosi, Regisseur von "Fuocoammare"

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Die glücklichen Preisträger mit der Juryvorsitzenden Meryl Streep

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Clausnitz liegt drei Stunden Fahrzeit von Berlin entfernt. Das Video mit dem Bus voller Flüchtlinge, darunter Kinder, die dort am Donnerstag von einem grölenden Mob in Angst versetzt wurden, erreichte die Berlinale am Ende wie ein hässlicher Brief aus der Wirklichkeit. Es zeigt, wie gefährlich niedrig die Schwelle zur Aggression in Europa bereits ist und wie ratlos wir einem Affekt gegenüberstehen, in dem sich Angst immer mehr zum bestimmenden Gemeinschaftsgefühl bündelt.

Das Kino kann darauf keine einfachen Antworten geben, doch immerhin vermag es dagegenzuhalten, um "die Menschlichkeit zurückzuerstatten", wie es die Produzentin Dora Bouchoucha Fourati auf der Abschlussgala treffend ausdrückte. Keine andere Kunstform setzt den Zuschauer so konsequent einer anderen Welterfahrung aus. All diese Berlinale-Filme, die in diesem Jahr Perspektiven zu erweitern suchten, erscheinen deshalb notwendiger denn je. Wie sieht Europa von der jenseitigen Seite aus – aus Afrika beispielsweise? Wer diesen Blick riskiert, sieht nicht nur Grenzen.

Spikes in Turnschuhen

Im Dokumentarfilm Les Sauteurs blickt man etwa vom Berg Gurugu auf Melilla, eine spanische Enklave in Nordafrika, die von drei meterhohen Zäunen umgeben wird. Wer glaubt, dass diese Menschen vor der Flucht abschreckten, irrt. Estephan Wagner und Moritz Siebert haben einem von ihnen, dem Malier Abou Bakar Sidibé, eine Kamera geliehen, um seine Vorbereitungen für den nächsten Versuch zu dokumentieren. Fast eine sportliche Herausforderung: In Sneaker werden Löcher gebohrt, um Spikes einzusetzen. Die Kamera wird in Abous Händen aber auch zu einem Instrument. Er entdeckt eine Sprache, um Ängste und Hoffnungen zu artikulieren, während auf der anderen Seite die Wärmebildkameras nur dunkle Schatten verzeichnen.

Gianfranco Rosis mit dem Goldenen Bären ausgezeichneter Film Fuocoammare gelingt dieser Perspektivenwechsel nicht. Er versucht dies erst gar nicht, weil er auf der Insel Lampedusa, auf der so viele Flüchtlinge stranden, lieber zwei Welten verzeichnet, die sich kaum berühren.

Steinschleuder und Ängste

Rosi interessiert sich mehr für die italienische Seite, eine alteingesessene Fischerfamilie, in deren jüngstes Mitglied, einen vorlauten Zwölfjährigen, er sich nachgerade verliebt. Samueles Lieblingsspielzeug ist die Steinschleuder, die er gegen Kakteen und imaginäre Feinde richtet. Doch er scheint nicht so selbstsicher, wie es zunächst den Anschein hat. Einmal berichtet er seinem Arzt herrlich altklug von inneren Dämonen.

Will Rosi auf Analogien hinaus? Man weiß es nicht so recht. Die Flüchtlinge bleiben, anders als in Les Sauteurs oder in Wang Bings Ta' ang, der einen Flüchtlingstross in China begleitet, merkwürdig gesichtslos. Bis auf wenige Ausnahmen filmt er sie als Kollektiv, auf das man in Lampedusa mit einer gut eingespielten Bürokratie reagiert. So kunstvoll die Beobachtungsgabe im Film erscheint, hinter vorherrschende Bilder gelangt Rosi nur selten.

Inhebbek Hedi, das Debüt des Tunesiers Mohamed Ben Attia, erzählt dagegen feinfühlig vom Preis der individuellen Freiheit. Der Film wurde als bestes Erstlingswerk prämiert, und Majd Mastoura erhielt verdientermaßen den Preis des besten Hauptdarstellers. Er verkörpert Hedi, einen jungen Mann, der auf einer Dienstreise kurz die Perspektive wechselt, die Annehmlichkeiten eines Urlaubers auskostet und sich dabei in die Tänzerin Mahdia (Rym Ben Messaoud) verliebt. Den Szenen zwischen den beiden verleiht Attia fast den Anschein einer Sommerromanze. Es handelt sich jedoch um eine Abschweifung mit gesellschaftspolitischer Schlagseite, formuliert doch diese Leichtigkeit in dem nordafrikanischen Land bereits eine Utopie, die mit Traditionen bricht.

Sichere Jury-Entscheidungen

Auch in weiteren Preiskategorien zeigte die von Meryl Streep geleitete Jury gutes Gespür für die überzeugenden Filme eines Wettbewerbs, der ohne Herausragendes blieb. Dass Lav Diaz für sein episch-elegisches philippinisches Revolutionsdrama A Lullaby to the Sorrowful Mystery den Alfred-Bauer-Preis für einen Spielfilm bekam, "der neue Perspektiven öffnet", mag zutreffend klingen. Doch dieser Preis scheint immer mehr zum Ghetto für den künstlerischen Film zu werden – warum nicht einmal den Großen Preis der Jury für ein Werk, das Gattungen hinterfragt, erweitert?

Schön und richtig dagegen, die Französin Mia Hansen-Løve für ihren Spielfilm L'avenir als beste Regisseurin zu prämieren, weil sie mit dezenten, aber präzisen Akzenten der Geschichte um eine Frau, die plötzlich vor neuen Herausforderungen steht, ungewöhnliche Tonlagen abgewinnt.

Siegfried A. Fruhaufs Kurzfilm Vintage Print wurde zwar nicht prämiert, stach aber als druckvolle Nachbearbeitung einer Postkarte ins Auge. Händl Klaus erhielt den Teddy-Award für den besten schwul-lesbischen Film. Kater ist eine konzentrierte, nicht immer ganz treffsichere Paarstudie mit Lukas Turtur und Philipp Hochmair, in der das gemeinsame Glück von innen zu faulen beginnt. (Dominik Kamalzadeh, 21.2.2016)