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Historisches Händehalten zwischen dem französischen Präsidenten François Mitterrand und dem deutschen Kanzler Helmut Kohl 1984 in Verdun.
Foto: EPA

Bilder sagen mehr als tausend Worte, heißt es. Manchmal sind aber doch einige Worte nötig, um ein Bild zu erklären. Etwa jenes des französischen Präsidenten Mitterrand und des deutschen Kanzlers Kohl 1984 in Verdun. Ihr Handschlag wurde im ersten Moment kaum verstanden; "Le Figaro" sprach von einer "Notlösung", die "NZZ" über die "demonstrative Ergriffenheit" einer "fast krampfhaft inszenierten Zeremonie".

Doch die diplomatische Geste ist geblieben, sie hat sich verankert im kollektiven Bewusstsein, ähnlich wie Willy Brandts Kniefall in Warschau. In Verdun entstand das Bild zweier Männer, die um das Gewicht der Geschichte wissen und die zusammen gedenken und trauern wollen; und daraus wurde das Bild zweier Nationen, deren Beziehung nie einfach, nie sehr innig war, aber seither bestimmt wird durch den geteilten Willen zum "Nie wieder".

Ein kalter Samstag

Der 22. September 1984 war ein kalter Samstag, es nieselte leicht, die Staatsgäste froren in ihren Mänteln zu Trompetenklängen, die so trostlos waren wie die von Bombenkratern übersäte Mondlandschaft um Verdun. Die Zeremonie mit Kohl und Mitterrand fand vor dem Gebeinhaus von Douaumont statt, wo 130.000 unbekannte Soldaten beider Nationen in einem einzigen Massengrab liegen. Sie starben 1916 in der Schlacht von Verdun, einer der furchtbarsten aller Zeiten, einem monatelangen Gemetzel zwischen Nahkampf und Bombenhagel.

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Vor dem Beinhaus von Douaumont befindet sich ein Friedhof mit 16.142 Gräbern französischer Soldaten. Er hat eine Fläche von 144.380 Quadratmetern.
Foto: REUTERS/Charles Platiau

Zum Angriff geblasen hatte der preußische Kriegsminister Erich von Falkenhayn, der die Franzosen "ausbluten" wollte, wie er sagte. Am 21. Februar um 8.15 Uhr nahmen tausend deutsche Geschütze die französischen Stellungen unter Beschuss. Doch die Franzosen wollten von ihrem Land "keinen Daumenbreit" – so ein Tagesbefehl von Marschall Joffre – preisgeben.

"Leichentuch" über dem Land

Erbittert wurde um jede Anhöhe, jeden Schützengraben, jedes Maschinengewehrnest gekämpft. Wie ein deutscher Frontsoldat ausrechnetete, kostete jeder gewonnene Meter sein Regiment zwei Soldatenleben. Bis im Juli tobte der Kampf in dem Inferno der Bombardierungen – dann blies Falkenhayn die Offensive ab und verlagerte Truppen an die Somme. Nun schlugen aber die Franzosen zurück, um das Fort Douaumont wieder in ihren Besitz zu bringen. Das Schlachten ging weiter. Ende des Jahres war der ursprüngliche Frontverlauf wiederherstellt. Weder die Deutschen noch die Franzosen waren weiter gekommen. Doch über dem Land um Verdun lag jetzt ein "Leichentuch", wie Erich Maria Remarque meinte.

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Archivmaterial aus dem Jahr 1916: Eine 75-Millimeter-Kanone wird in Stellung gebracht.
Foto: AP

Verdun ein Symbol für den Stumpf- und Irrsinn einer unnützen Materialschlacht, eines mörderischen Gas- und Grabenkrieges – ja, ganz einfach des Krieges. Nach Historikerangaben fielen in der Schlacht 300.000 Deutsche und Franzosen; weitere 400.000 wurden verletzt oder vermisst, und auch dazu kamen noch ungezählte Soldaten, die in dem permanenten Stahlgewitter durchdrehten und nach dem Krieg mit einem "shell shock" (Bombentrauma) in Irrenhäusern verschwanden.

Deutsch-französische Rivalität

Verdun ist aber auch ein Symbol für die jahrhundertealte deutsch-französische Rivalität auf den Kontinent. Zufall oder nicht: In Verdun hatten die Enkel von Karl dem Großen im Jahr 843, also mehr als tausend Jahre zuvor, das fränkische Reich aufgeteilt und damit den deutsch-französischen Antagonismus begründet. Vor der Schlacht von Verdun hatte es schon den franko-preußischen Krieg von 1870 gegeben, danach den Zweiten Weltkrieg. Aber nirgends verkrallten sich Deutsche und Franzosen so sehr ineinander, bekämpften sich so leidenschaftlich und zum Schluss so abgestumpft wie in Verdun.

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Französische Truppenverlegungen am 8. April 1916.
Foto: AP

All das steckt in dem minutenlangen Handhalten Kohls und Mitterrands. Wie weit es eine spontane Geste war, ist ungeklärt. Auf jeden Fall war sie nicht im Protokoll vorgesehen. Ausgegangen ist sie von Mitterrand. Wie der deutsche Fernsehmann Ulrich Wickert beschreibt: "Der deutsche Kanzler war erleichtert über die Geste. Mitterrand, der seine Gefühle stets für sich bewahrte, blickte trotz seiner Gebärde weiter in sich hinein, während Helmut Kohl in diesem beklemmenden Augenblick erleichtert zu dem Franzosen hinüberschaut, dankbar für diesen scheinbar kleinen Ausdruck von Menschlichkeit."

Deutsches Schuldgefühl

Zyniker meinten, der Franzose habe die Kanzlerhand während der Marseillaise nur ergriffen, um wiedergutzumachen, dass er die Deutschen einige Wochen zuvor nicht zu den D-Day-Feiern des Zweiten Weltkriegs eingeladen habe. Die Erklärung greift aber zu kurz. Spekulieren lässt sich höchstens, ob das deutsche Schuldgefühl, das sich in Kohls sichtbarer Freude über die dargebotene Hand ausdrückte, eher dem Ersten oder dem Zweiten Weltkrieg galt. Vielleicht beiden.

Zwischen Berlin und Paris ist die Debatte um die Kriegsschuldfrage bis heute nicht erledigt: Der französische Historiker Jean-Noël Jeanneney erklärte noch 2014, der Beginn des Ersten Weltkriegs sei von Deutschland gewollt gewesen, während es in Frankreich "sicherlich kein Verlangen" danach gegeben habe.

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Zahlreiche historische Vereine in Deutschland wie in Frankreich spielen an Jahrestagen Szenen aus dem Ersten Weltkrieg nach.
Foto: Reuters/Platiau

Solche akademischen Streitereien über den Rhein hinweg bleiben fast so häufig wie die tagespolitischen Meinungsunterschiede. Pariser Stimmen werfen den Deutschen regelmäßig Hegemoniegelüste vor, Berlin kritisiert dafür den Reformstau Frankreichs. Moralisch kommen die Dinge langsam wieder ins Lot, seitdem Angela Merkel den Syrien-Flüchtlingen die Arme öffnet, während Frankreich seine Grenzen abdichtet. Bestehen bleibt der Dauerstreit um die Agrar- oder Haushaltpolitik, den Asyl- und Syrienkurs. Nicht zu vergessen, dass Mitterrand die deutsche Wiedervereinigung 1989 zu hintertreiben versuchte; seine Einwilligung erkaufte er sich mit Kohls Zusage zur Einführung des Euro.

Deeskalationsstrategie

Die Geschichte zeigt es seit 843: Der deutsche Adler und der französische Hahn sind an sich nicht für eine friedliche Koexistenz gemacht. Auch deshalb war der Handschlag von Verdun so wichtig. Die deutsch-französischen Zeremonien mögen oft etwas bemüht, ja, aufgesetzt wirken. Dafür kommt es seither nie mehr zum Eklat oder zum Bruch. Man bemüht sich stets und redlich, auf beiden Seiten. Am Sonntag wird in Verdun ein deutsch-französisches Museum eröffnet; Ende Mai werden sodann 4.000 deutsche und französische Jugendliche zusammen mit Kanzlerin Merkel und Präsident Hollande in Verdun einen weiteren Staatsakt begehen. Und niemand wird mehr behaupten, das sei eine unnütze Gedenkfeier. (Stefan Brändle aus Paris, 19.2.2016)