"Viele Kinder haben zu viel an Service bekommen – anstatt authentischer Führung durch ihre Eltern."

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Familientherapeut, Autor und STANDARD-Kolumnist Jesper Juul.

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Diese Serie entsteht in Kooperation mit Family Lab Österreich.

Frage

Was mache ich, wenn ein erwachsenes Kind nicht mehr zuhause wohnt, aber: Nach einem Jahr Bundesheer oder einem Jahr als Au-pair wieder zurück ins "Serviceleben Familie" kommt und auf unabsehbare Zeit wieder auf Kosten der Eltern leben möchte?

Wenn dieses Kind nach dem Auszug immer noch einen Schlüssel hat, vorbeikommt, um sich Essen "auszuleihen" und Werkzeug auszuborgen, wenn die Eltern nicht zuhause sind? Wenn dieses Kind in einer anderen Stadt studiert und es als selbstverständlich ansieht, die Sommerferien kostenfrei bei den Eltern zu verbringen?

Wie können wir als Eltern dieses Verhalten beenden, ohne den jungen Menschen zu verletzen – und dabei verhindern, dass er gar nicht mehr zu Besuch kommt? Wann ist es angebracht, den Hausschlüssel zurück zu verlangen?

Antwort

Ich möchte mit einer Geschichte einer Bekannten aus Stockholm beginnen. Nach ihrer Scheidung wohnte sie mit ihrem damals 16-jährigen Sohn so lange in der alten Wohnung, bis er auszog. In der neuen Wohnung kam er oft zu Besuch, um zu plaudern. Bei einem dieser Besuche betrat er die Wohnung, schenkte der Mutter eine kurze Umarmung, steuerte direkt auf den Kühlschrank zu und bediente sich, ohne zu fragen.

Für die Mutter war das ein Dilemma: Einerseits füllt sich das Herz der Mutter mit Liebe, wenn sie ihr Kind zufrieden essen sieht. Andererseits fühlte sie sich übergangen und gewissermaßen als Supermarktersatz. Meine Bekannte sprach mit ihrem Sohn darüber und bekam zur Antwort: "Entschuldigung, Mama! Ich hab nicht darüber nachgedacht und es ist mir jetzt unangenehm."

So haben die beiden ihren Konflikt gelöst. Die Mutter war froh und ein bisschen stolz, dass ihnen das gelungen ist und teilte ihre Erfahrung mit anderen Müttern und Freunden. Allesamt gut ausgebildete, intelligente und erfahrene Menschen. Zu ihrer großen Überraschung bezeichneten sie acht von zehn dieser Bekannten daraufhin als Rabenmutter. Das zeigt die Vorstellung vieler Menschen, wie Liebe zwischen Eltern und Kindern sein sollte.

Liebe als Dienstleistung

Ihre Frage erzählt eine ähnliche Geschichte, allerdings mit einem wichtigen Unterschied: Die Eltern darin haben nicht den Mut, ihren Kindern in die Augen zu sehen und das Dilemma anzusprechen. Einerseits lieben sie das Kind mehr als irgendetwas auf der Welt, andererseits spüren sie, dass die Zeit gekommen ist, sich um die eigenen Bedürfnisse und Grenzen zu kümmern.

Viele dieser Eltern haben ihren Kindern von Anfang an das Gefühl vermittelt, dass Liebe eine Dienstleistung ist. Sie haben ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche vernachlässigt und so haben sich die Kinder daran gewöhnt. Diese Kinder haben zu viel an Service bekommen – anstatt authentischer Führung durch ihre Eltern.

Das Rollenspiel durchbrechen

Das Problem ist die künftige Beziehung zwischen Eltern und den erwachsenen Kindern. Soll dieses für beide Seiten frustrierende Rollenspiel ewig weiter gehen, oder sollen die Eltern die Initiative ergreifen in Richtung nachhaltige Freundschaft mit den erwachsenen Kindern?

Das Rollenspiel versagt meist dann, wenn Enkelkinder oder Schwiegerkinder hinzutreten. Diese sind nämlich nicht darauf vorbereitet, dass ihnen im idyllischen Zuhause der Schwieger- oder Großeltern bereits eine Rolle zugeteilt wurde. Die Kultur in diesen Familien sieht kein Recht vor, zu sagen, was man will oder nicht will. So wird die Luft immer dicker durch unausgesprochene Erwartungen und unterdrückte Aggression. Die Frage, wie man etwas verändern kann, ohne zu verletzen, drängt sich auf.

Karten auf den Tisch

Auch in Familien mit erwachsenen Kindern liegt es in der Verantwortung der Eltern, für eine Familienkultur und für Normen zu sorgen, die es ermöglichen, dass sich alle Familienmitglieder wohlfühlen und dass sich Liebe entfalten kann. Die beste Gelegenheit dazu ist ein Sonntagsessen, zu dem die Kinder eingeladen werden – und bei dem man die Karten auf den Tisch legt. Die Eltern könnten dann zum Beispiel sagen: "Es ist Zeit für Euch, erwachsen zu werden und das Zuhause eurer Kindheit zu verlassen. Wir haben Angst davor, wie das Leben ohne Euch sein wird, aber wir freuen uns darauf, mehr Zeit und Raum für unsere Bedürfnisse zu haben. Das bedeutet für euch, dass wir unseren Servicestandard senken. Es war wunderbar, euch die ersten 18 Jahre so nahe gewesen zu sein. Wir wissen, dass sich das in Zukunft ändern wird."

Oder Sie machen folgende Übung: Stellen Sie sich Ihren Sohn oder Ihre Tochter vor, wie er oder sie in zehn Jahren mit seinem Partner oder seiner Partnerin darüber diskutiert, wo sie dieses Jahr Weihnachten verbringen wollen. Die beiden wollen nicht wirklich zu Ihnen kommen – und das sich wiederholende Argument Ihres Kindes lautet: "Meine Mutter wird gekränkt sein, wenn wir nicht bei ihr feiern." Fühlt sich das an wie ein Lottogewinn? (Jesper Juul, 14.2.2016)