Reden über die Geburt des Situationismus: Michèle Bernstein, Asger Jorn, Colette Gaillard und Guy Debord (von links) in "Sur le passage ..." ("Über den Durchgang ...", 1959).

Foto: Österreichisches Filmmuseum

Wien – Lebensgeschichten erscheinen oftmals als Geschichten von Situationen – von Momenten, in denen sich die Welt in einem Modell vermittelt. Ein vertrautes Modell der Gegenwart: einen Film im Kino betrachten. Kinozeit offenbart sich im Fokus des Projektors gleichermaßen als Konserve und zeitloses Reservoir, als Erinnerungsarchiv und Gegenwart eines Bilderflusses.

Mit wachem Blick für die Möglichkeiten und Verlockungen des bewegten Bilds kritisierte Guy Debord (1931–1994), die Schlüsselfigur des Situationismus, den Film als Teil eines Spektakels für eine stagnierende Gesellschaft. Das Zusehen verurteilte er in seinem Gesellschaftsbild als einzig verbliebene Handlungsoption. Denn alle, die nur noch hinsehen, vergessen das Handeln, verleugnen das Potenzial eines Miteinanders von freier Individualität und Gesellschaft. Was bleibt, ist ein Zirkelschluss, ein Trugschluss: "Alles, was erscheint, das ist gut; alles, was gut ist, das erscheint."

Die Aktualität und Schärfe von Debords Polemik betont das Filmmuseum anhand einer vollständigen Werkschau der nun neu kopierten Arbeiten. Diese waren nie Teil eines Museumsbestands und sind in dieser Zusammenstellung erstmals in Österreich zu sehen. Grundlage für die Sicherung der Filme war ein langjähriger Austausch zwischen Museum und dem Filmemacher Olivier Assayas sowie Alice Debord (Alice Becker-Ho), der ehemaligen Komplizin des Künstlers und langjährigen Verwalterin des Nachlasses.

Stürmer der Ikonen

Denn Debords Filme waren mehr als zwanzig Jahre lang praktisch nicht zu sehen: Er selbst zog sie 1984 aus dem Verkehr, und erst nach dem Freitod des Künstlers kehrten sie allmählich wieder ans Tageslicht zurück: 1994 präsentierte der französische Fernsehsender Canal+ einige seiner Filme im Zuge der Fertigstellung seines TV-Testaments Guy Debord. Son art et son temps. Es folgte eine Retrospektive im Jahr 2001 bei den Festspielen von Venedig, wo ebenfalls Assayas mitwirkte und schließlich 2005 auch die Rückkehr der Filme nach Paris förderte – ebenso wie eine aufwendige DVD-Veröffentlichung des französischen Labels Gaumont.

Debords Arbeiten waren stets Politikum, Ausdruck und Infragestellung von Privilegien und Zeitgeist. Als 19-Jähriger arbeitete er im Pariser Kunstkollektiv der Lettristen an seinem ersten Kinoexperiment. Hurlements en faveur de Sade besteht vor allem aus Schwarzbild und wird 1952 als Attacke auf die Filmfestspiele in Cannes präsentiert. Im Film arrangieren sich gelesene Zitate von James Joyce, Auszüge aus dem Code civil, ein Essay seines Mitstreiters Isidore Isou und Dialoge aus John Fords Rio Grande zu einem ironisch-bissigen Sprachangriff auf die Kategorisierung von Kunst. Noch im gleichen Jahr stürmt Debord mit einer Gruppe eine Pressekonferenz von Charlie Chaplin und fordert die Abschaffung von Ikonen.

In Paris skandiert er bald "Niemals Arbeiten!" an die Wände, und doch dient sein 1967 veröffentlichtes Pamphlet Die Gesellschaft des Spektakels bei den Protesten von 1968 zahllosen Arbeitern als Inspiration und Stilmittel. Ab den Siebzigern genießt er über Jahre hinweg das Mäzenatentum seines Verlegers und Produzenten Gérard Lebovici, der ihm später eigens ein Kino für die Präsentation seiner Filme zur Verfügung stellt. Und noch heute ist die Bewahrung seines unbequemen filmischen Werks erst durch Zuschüsse privater Kunstförderer umsetzbar.

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben nennt den überzeugten Marxisten Debord einen Strategen. Und in der Tat: Seine streitbaren und fragenden Bilder, seine störenden Schriften haben wenig von ihrer anregenden Dringlichkeit eingebüßt. Noch 2003 attackiert Susan Sontag seine Idee einer gleichgültigen Gesellschaft des Spektakels als Provinzdenken eines westlichen Mittelstands und wirft ihm vor, das akute Leiden der Welt als Banalität abzutun. Debords eigenhändig sortierte Schriften führen kurz darauf zu einem Streit über einen Millionenbetrag zwischen der Bibliothèque nationale de France, Alice Debord und der Yale-Universität.

Zuletzt war der Bestand 2013 in der Ausstellung der Bibliothèque zu erleben und machte den rätselhaften Agitator etwas greifbarer. Die nunmehrige Bewahrung seiner Filme komplettiert dieses Bild und sträubt sich auf erfreuliche Weise gegen das Wegsehen. Und das im Museum! (Dennis Vetter, 29.1.2016)