Eberharter: "Es geht eine Stunde vor dem Rennen los, das Adrenalin schießt dir heraus, du gehst fünfmal aufs Klo."

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STANDARD: Ihre Siegesfahrt auf der Streif 2004 ging als die perfekte Fahrt in die Annalen der Hahnenkammrennen ein. Fühlt sich das auch heute noch gut an?

Eberharter: Es war sicher eines meiner besten Rennen, aber in erster Linie wird mir das immer wieder bewusst, wenn mich die vielen Leute darauf ansprechen, ganz egal wo ich hinkomme. Man spricht nicht von Olympia, von dem Weltcupgesamtsieg oder den Weltmeistertiteln, sondern meist nur von der Fahrt in Kitzbühel. Sie ist in den Köpfen der Menschen geblieben.

STANDARD: War die Fahrt so perfekt, wie sie im TV ausgesehen hat?

Eberharter: Sie war ziemlich gut, ich habe mich schon unterwegs sehr gut gefühlt. Aber im Endeffekt läuft es viel zu schnell ab, als dass man sich darauf konzentrieren könnte, ob es gut oder schlecht ist. Vieles läuft automatisiert ab und man versucht, die Passagen, die man sich eingeprägt hat, richtig zu erwischen, und dort keine Fehler zu machen. Ob es dann reicht, zeigt die Zeit. Während des Rennens setzt man sich damit nicht auseinander.

STANDARD: Was war ausschlaggebend für den Erfolg?

Eberharter: An diesem Tag hat alles gepasst. Zum einen war es die Gewissheit, dass ich zum letzten Mal hier fahren werde. Zum anderen habe ich zwei Tage zuvor eine Ersatzabfahrt gegen Lasse Kjus um eine Hundertstelsekunde verloren und in der Analyse gesehen, dass Daron Rahlves bei der letzten Teilzeit enorm schnell war, weil er unter dem Hausberg Richtung Traverse eine sehr viel engere Linie gefahren ist als wir und uns dort einiges abgenommen hat. Und das wollte ich am Samstag – ohne vorheriges Training – genauso fahren und habe es riskiert. Ich wollte schon immer gewinnen, aber an dem Tag war ich besonders motiviert, wollte es wirklich wissen. Aber ich habe mir nie gesagt, ‚ich muss gewinnen‘, sondern ‚gib dein Bestes’.

STANDARD: Gibt es den perfekten Lauf im Skisport überhaupt?

Eberharter: Den hat jeder im Kopf. Man besichtigt, merkt sich die relevanten Passagen und geht diesen imaginären Film mehrmals im Kopf durch. Ich habe das relativ oft gemacht, an die 15, 20 Mal vor jedem Rennen. Dass man aber alles auf den Millimeter genau erwischt, wird es – wenn überhaupt – nur ganz selten geben.

STANDARD: Waren Sie am Limit?

Eberharter: Am Limit ist man immer. Man muss eine Entscheidung treffen. Entweder fährt man einfach runter und ist bei den anderen dabei, oder man will das Rennen gewinnen. Dann muss man sich runterhauen wie kein Zweiter. Man muss schon ein sehr hohes Risiko nehmen, um Weltcuprennen zu gewinnen, speziell in Kitzbühel. Das ist immer eine Gratwanderung.

STANDARD: Nach dem Motto ‚siegen oder fliegen’?

Eberharter: Nein, ich habe immer versucht, mit kontrolliertem Risiko zu fahren. Ich habe durch meinen Sturz in jungen Jahren in Gröden, als ich mir das Kreuzband gerissen habe, gelernt, dass es Passagen gibt, auf die man nicht mit 100 Prozent hinfahren darf, sonst ist die Gesundheit höchst gefährdet. Lieber erst etwas Zeit investieren und dann wieder zurückgewinnen. Auch bei Sprüngen soll man nicht mit dem letzten Zacken hinfahren, da muss bei Zeiten aufmachen.

STANDARD: Wussten Sie vor dem Start, dass Ihre Kollegen Hermann Maier, Fritz Strobl, Michael Walchhofer an der Bestzeit gescheitert sind und Sie daher die letzte österreichische Hoffnung waren?

Eberharter: Das kriegt man unweigerlich an den Reaktionen der Serviceleute mit. Aber man blendet das aus, weil man sehr konzentriert und damit beschäftigt ist, den Stress zu bewältigen, weil man ohne körperliches Zutun schon auf 160, in einem gewissen Alarmzustand ist.

STANDARD: Wie gingen Sie mit dem Druck um, der speziell auf den Österreichern lastet?

Eberharter: Ich habe nie den Druck verspürt, etwas für die Öffentlichkeit, die Medien oder Eltern machen zu müssen. Diesen Rucksack habe ich mir nicht umgehängt. Ich wollte immer nur meine Bedürfnisse befriedigen. Aber ich schätzte es schon sehr, wenn ich im Ziel bejubelt und bestaunt wurde und Vorbild für viele Kinder und Jugendliche sein konnte. Mir war aber schon bewusst, dass ich den Zuspruch nur bekam, weil ich erfolgreich war.

STANDARD: Ist ein Sieg in Kitzbühel das Höchste für einen Abfahrer?

Eberharter: Es ist schon so etwas wie der Ritterschlag, weil es medial das Größte ist, auch in Amerika übertragen wird, wo der Skisport fast überhaupt nicht präsent ist. Als Sieger hat man auf einen Schlag eine weltweite Plattform. Ich würde es fast gleichsetzen mit einer Olympiamedaille oder einem WM-Titel.

STANDARD: Wie erging es Ihnen beim ersten Streif-Start 1991?

Eberharter: Damals hatte ich die Angst im Anorak verpackt. Ich war noch kein Abfahrer, sondern Techniker und wollte mich für die WM-Kombination in Saalbach qualifizieren. Es war die erste und letzte Chance. Ich hatte eine Magenverstimmung und musste das erste Training auslassen. Als mein Zimmerkollege Peter Wirnsberger danach zurückkam, hat er mich geschockt, weil er ohne Hallo zu sagen, meinte: ‚Bist du deppert, du kannst dir nicht vorstellen, wie brutal, schlagig, eisig und schnell die Streif heuer ist. Wenn ich du wäre, würde ich nicht fahren.’ Da konnte ich nicht mehr schlafen. Am nächsten Tag bin ich die Mausefalle runtergerutscht und habe entschieden, nicht zu fahren.

STANDARD: Sie haben es tatsächlich bleiben lassen?

Eberharter: Nein. Hans Pum, der Trainer kam her und fragte mich: ‚Und wie gefällt‘s dir Steff’ Ich fahre da nicht! Ja wieso nicht? Weil ich’s mit der Angst hab.‘ Darauf er: ‚Beruhige dich, schau dir das einmal an, du musst keine Bestzeit fahren.‘ Ich bin dann zum Start, habe mir angeschaut, wie sie wie Wahnsinnige angeschoben haben, obwohl es steil weggeht und dann plötzlich wild rudernd in der Mausefalle auf Nimmerwiedersehen verschwunden sind. Man glaubt, die liegen alle dort unten auf einem Haufen.

STANDARD: Aber gestartet sind Sie dann trotzdem?

Eberharter: Ja. Ich hatte eine Startnummer um die 70. Vor mir im Starthaus hat ein Chilene die Skier abgeschnallt und ist wieder raus gegangen. Ich habe den Starter gefragt, was los ist, und er hat gesagt: ‚Kim her do, du bist der nächste.‘ Ich habe dann vor der Mausefalle wie der spätere Olympiasieger Tommy Moe einen Bremsschwung eingelegt, um nichts zu riskieren, war sehr passiv unterwegs, habe zweimal das Netz berührt und kam mit neun Sekunden Rückstand ins Ziel. Im zweiten Training waren es fünf Sekunden und im Rennen dann nicht einmal mehr drei Sekunden.

STANDARD: Wenig später wurden Sie mit 21 Jahren Doppelweltmeister in der Kombi und im Super G.

Eberharter: Das war natürlich eine fantastische Geschichte. Ich hatte zwar auch schon vorher gute Rennen und war gut in Form, aber ein Vorteil war sicher auch, dass mir der Hang in Saalbach lag, ich dort vorher oft trainiert habe und somit auch die Streckenführung und die Schlüsselstelle genau gekannt habe. Im ersten Durchgang habe ich Slalomweltmeister Marc Girardelli die Bestzeit abgejagt, im zweiten ist er knapp vor dem Ziel ausgefallen. Mein Optimismus war groß. Und mit der Leichtigkeit des Seins durch Gold im Super-G war der Weg frei für mich.

STANDARD: Was bedeutet die Streifabfahrt für die Psyche?

Eberharter: Die mentale Belastung ist immer zu spüren, keiner fühlt sich da oben gut. Es geht eine Stunde vor dem Rennen los, das Adrenalin schießt dir heraus, du gehst fünfmal aufs Klo. Unmittelbar vor dem Start war die Aufgeregtheit allerdings wie weggewischt. Und es war immer ein schönes Gefühl, im Ziel zu sein.

STANDARD: Hatten Sie jemals, speziell in Kitzbühel, Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieses Sports, gerade wenn man an die vielen teils folgenschweren Stürze denkt?

Eberharter: Nein, darüber habe ich nie nachgedacht. Es ist die Leidenschaft, die uns antreibt, es ist unser Leben. Wenn man anfängt, darüber nachzudenken, dann sollte man es bleiben lassen.

STANDARD: Gibt es Momente während des Rennens, in denen man Angst bekommt?

Eberharter: Jeder weiß, was passieren kann, aber im Moment des Aktes verdrängt man die Angst. Das erfordert aber auch sehr hohe mentale Fähigkeiten, die nicht jeder hat. Es braucht einen kühlen Kopf, damit nicht die Emotionen mit dir durchgehen.

STANDARD: Fehlt Ihnen der Geschwindigkeitsrausch der Rennen?

Eberharter: Eigentlich nicht. Ich habe mit dem abgeschlossen, brauche keinen Kick, bin ruhiger geworden. Ich war aber diesbezüglich nie richtig anfällig, im Gegensatz zu anderen, die Benzin im Blut haben.

STANDARD: Werden Sie die Rennen in Kitzbühel live mitverfolgen?

Eberharter: Ja, ich bin mit der Familie vor Ort, entspannt. Der sechsjährige Sohn ist erstmals da. (Thomas Hirner, 22.1.2016)