Filmstills aus "The Infinite Happiness": 476 Wohnungen, 1000 Einwohner und kein Fünkchen Monotonie. Das Eight House des dänischen Architekten Bjarke Ingels lässt Raum für viele Lebensstile, Charaktere und Anekdoten, von denen man im österreichischen Wohnbau nur träumen kann. Schaf Nr. 00214.

Foto: Beka & Partners / Infinite Architectures

Frau Zhu beim morgendlichen Tai-Chi.

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Erfindergeist Palle auf seinem selbstgebauten Einrad.

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In der 21. Minute wandert Schaf Nr. 00214 durchs Bild, macht laut Määäh, als würde es die Kamera wegblöken wollen, und tummelt sich dann mit seinen drei Dutzend Wollfreunden durchs Gatter, um hier draußen auf der Steppe das Abendmahl zu sich zu nehmen. Das tausendfach publizierte Haus, das im Hintergrund in die Höhe ragt und um das sich die ganze Welt schon seit Jahren reißt, ist Nr. 00214 herzlich egal. Senkt den Kopf, widmet sich dem Futter, und Schnitt.

The Infinite Happiness ist nicht nur ein filmisches Porträt des 2011 errichteten und mehrfach preisgekrönten Wohnhauses "Eight House" in Ørestad, irgendwo am äußersten Stadtrand von Kopenhagen, sondern auch ein ungewöhnlich tiefer Einblick in das alltägliche Leben der hier wohnenden Menschen mitsamt ihren Hobbys, Ritualen und domestizierten Tieren.

So hält sich dann auch die Verwunderung in Grenzen, wenn in Minute 39 plötzlich Erik auf die Bühne tritt und seinem künftigen, derzeit noch grasenden Rindersteak zärtlich und auch irgendwie appetitangeregt auf den Bauch klopft. Erik ist Mitglied der Viehzucht-Genossenschaft hier im Hause und somit einer von rund 100 Haushalten, die zusammen 20 Biokühe unterhalten, um sie am Ende des Jahres zu schlachten und das Fleisch auf die Genossenschaft aufzuteilen. "Ja, in diesem Haus ist alles anders. Es ist wie ein Bergdorf gebaut. Das lässt uns alle näher rücken. Wir sind irgendwie sozialer."

Ila Beka Louise Lemoine

Es ist genau dieses gemeinschaftliche Wohnen und Handeln, das im Film The Infinite Happiness den Zuschauer 85 Minuten lang so wunderbar berührt. Während sich die Diskussion über die Zukunft des Wohnbaus in Österreich meist in der Möbelausstattung undefinierter Mehrzweck- und Gemeinschaftsräume erschöpft, galoppiert das Eight House des dänischen Architekturbüros Bjarke Ingels Group (BIG) mit seinen 476 Wohnungen und seinem mehr als einen Kilometer langen Radweg, der sich bis in den zehnten Stock hochschraubt, schnurstracks in den Olymp der vielzitierten sozialen Nachhaltigkeit. Und man starrt mit einer ordentlichen Portion Neid auf die Leinwand.

"Ich muss gestehen: Zu Beginn war es die Architektur, die Ästhetik dieses Hauses, die uns fasziniert hat", sagt die Pariser Filmemacherin Louise Lemoine. Gemeinsam mit ihrem Partner Ila Bêka macht sie Dokumentarfilme, sehr lustige sogar, über meist prominente, weltbekannte Bauten. Nach ihrem Debüt Koolhaas Houselife im Jahr 2009, in dem sie ein berühmtes Einfamilienhaus des Pritzkerpreisträgers Rem Koolhaas aus der Sicht der Putzfrau Guadalope vorstellt, folgten Filme über das Guggenheim-Museum in Bilbao sowie über Museen, Kirchen und Feuerwehrstationen von Renzo Piano, Richard Meier und Herzog & de Meuron.

"Doch bei diesem Film war alles anders", erinnert sich Lemoine. "Wir sind für einen Monat hier eingezogen, haben mehr oder weniger Wohnung getauscht mit einer hier lebenden Familie und haben das Haus in dieser Zeit auf eine Art und Weise erlebt, die nicht nur lustig, intensiv, abenteuerlich, sondern auch sehr berührend war." Nach dieser Erfahrung, meint die 34-jährige Filmemacherin, habe man das Eight House nicht nur als innovatives Bauwerk, sondern in erster Linie als soziales Kraftwerk verstanden.

Ermüdende Schönheit

In 30 kurzen Episoden wird Bjarke Ingels' Eight House minutiös unter die Lupe genommen. Da gibt es den blinden Christian, der im Keller alte Klaviere restauriert, stimmt und für den Weiterverkauf rüstet. Da gibt es Palle, seines Zeichens leidenschaftlicher Erfindergeist, der jeden Tag mit dem Einrad die Rampe auf und ab fährt. Da gibt es Familie Zhu, die im Nebel steht und so wie jeden Tag neben dem Haus Tai-Chi praktiziert. Da gibt es Gitte und Maria, die zwei Bloggerinnen und Instagram-Fotografinnen, die in ihrer Arbeit die pure Magie dieses Bauwerks festzuhalten versuchen.

Und dann gibt es Jesper, diesen unermüdlichen Gärtner mit Kappe und Ohrenschutz, der mit seinem Rasenmäher jede Böschung und jeden steilen Teletubby-Hügel im Innenhof des Eight House zähmt. "Das Gärtnern ist wirklich ermüdend hier", sagt er, sichtlich außer Atem, nachdem er die Maschine die meterhohen Hügel Dutzende Male hinaufgeschoben und hinuntergezogen hat. "Aber das Haus, das ist schön."

Doch es ist nicht alles rosig im Eight House, in diesem Mekka der Architektinnen und Studenten, die das Gebäude seit Eröffnung vor vier Jahren bus- und metroweise strömen. Claus und Virginia stehen in ihrem Penthouse im letzten Stock und blicken etwas böse in die Kamera. "Manchmal kommen 70, 80 Menschen die Rampe hoch, bleiben vor unserem Vorgarten stehen und schauen uns ins Wohnzimmer rein. Manche von ihnen betreten die Terrasse und pflücken einfach unsere Rosen. Ich fühle mich hier wie in einem Zoo. Und ich bin richtig böse, denn vor sechs Monaten hatte ich einen Herzinfarkt, und nun muss ich die Wohnung aus gesundheitlichen Gründen verlassen." Ende der Episode.

Bjarke, du verrückter Hund!

"Das Schöne an unserer Arbeit ist, dass wir mit der Realität arbeiten", sagt die Regisseurin. "Das ist etwas ganz anderes als ein Film über eine frei erfundene Sache. Mit jedem Film, mit jedem Zusammenkommen mit den Menschen lerne ich viel dazu. Die Arbeit öffnet mir die Sinne! Wenn Sie so wollen, ist so ein Film – egal ob im Drehen, im Schneiden oder einfach nur im Betrachten – ein gutes Werkzeug, um Vorurteile und vorgefasste Ideen und Meinungen abzubauen. Mit jeder Minute mehr."

Und was sagt der Architekt höchstselbst zu diesem Film? "500 Wohnungen, 1000 Bewohner, das ist schon was", meint Bjarke Ingels auf Anfrage des STANDARD. "Und so ungleich wie die Wohnungen sind auch die hier lebenden Menschen. Der Film von Ila Bêka und Louise Lemoine ist in meinen Augen ein Kunstwerk, das die soziale Macht unserer gebauten Umwelt so schön sichtbar macht."

13. Minute. Boris steht mit seiner Frau Anne im Wohnzimmer, schwärmt vom Radweg vorm Fenster, von den offenen Wohnungsgrundrissen, von den Nachbarn, denen man hier auf Schritt und Tritt begegnet. Zu später Stunde – draußen ist es schon dunkel geworden – gibt er vor laufender Kamera ein Geständnis ab: "Hallo Bjarke, du verrückter Hund! Du hast hier etwas Unglaubliches geschaffen! Ich fühle mich privilegiert, an so einem Ort leben zu dürfen. Bjarke, verdammt noch mal, ich wünschte, ich könnte mir dein geniales Hirn ausborgen!" So ein Kompliment sollte, verdammt noch mal, als Appell an die österreichische Wohnbaupolitik und Wohnbaubranche verstanden werden. (Wojciech Czaja, Album, 23.1.2016)