Lord George Weidenfeld ist im Alter von 96 Jahren gestorben.

APA/dpa/Nestor Bachmann

Großbritannien hat seine Herzen und seine Grenzen verschlossen gegenüber Flüchtlingen, in diesem Jahr könnte die Abkehr vom politischen Einigungsprojekt in Europa hinzukommen. Mehr und mehr droht der Insel verlorenzugehen, wofür der 96-jährig verstorbene Lord George Weidenfeld stand: Großzügigkeit, intellektuelle Neugierde, Wille zum Dialog und politischen Ausgleich mit den Nachbarn auf einem Kontinent, dessen Geschichte immer wieder von blutigen Gemetzeln unterbrochen wurde.

Mit seinem wienerischen Charme – bis zuletzt sprach er Englisch mit starkem deutschem Akzent – machte sich der Jude Weidenfeld in seiner Wahlheimat einen Namen als erfolgreicher Verleger, als Freund kluger und talentierter Männer und vor allem Frauen, als Brückenbauer zwischen Klassen, Nationen und Weltanschauungen.

Flucht nach England

Kurz nach dem Ersten Weltkrieg 1919 geboren und im Wien der Zwischenkriegszeit als Einzelkind großbürgerlicher Eltern aufgewachsen, gehörte Weidenfeld zur großen Gruppe der Flüchtlinge vor Hitler, die in England Karriere machten. Mit vielen anderen jüdischen Immigranten teilte er die Dankbarkeit gegenüber seiner neuen Heimat – und eine Rastlosigkeit, die mit dem Gefühl zu tun hatte, man müsse sich der lebensrettenden zweiten Chance würdig erweisen.

Noch im vergangenen Sommer engagierte sich Weidenfeld mit einem Rettungsfonds für die bedrohte christliche Minderheit in Syrien und dem Irak, wo die Terrorgruppe "Islamischer Staat" hunderte allein wegen ihrer Religionszugehörigkeit ermordet hat. "Ich habe eine Schuld abzubezahlen", teilte Weidenfeld britischen Medien mit.

Lebenslanges Engagement für die interreligiöse Aussöhnung

Damit bezog er sich auf das Engagement christlicher Gruppen auf der Insel, besonders der Quäker, die in den 1930er-Jahren sehr viel hellsichtiger als das englische Establishment die Gefahr wahrnahmen, die Hitlers Rassenwahn für die jüdische Minderheit darstellte. Mit 18 Jahren, nicht lang nach dem Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich, machte sich Weidenfeld mit einem Koffer und, wie er selbst sagte, "16 Shilling and six pence" auf den Weg nach London. Die örtliche Flüchtlingshilfe brachte ihn bei einer gläubigen Protestantenfamilie unter, Fundament eines lebenslangen Engagements für die interreligiöse Aussöhnung. Auch den Eltern gelang die Flucht auf die Insel, die im Zweiten Weltkrieg zeitweise allein der Nazi-Kriegsmaschinerie widerstand.

Netzwerker

In Wien hatte Weidenfeld Sprachen gelernt und die Diplomatenschule besucht. Das kam ihm nun zugute: Er fand sich schnell zurecht, heuerte bei der BBC an, knüpfte Kontakte auf Englisch, Französisch, Italienisch. 1949 gründete er mit einem bestens vernetzten Mitglied der englischen Kulturaristokratie das Verlagshaus Weidenfeld & Nicolson. Seiner unaufhörlichen Arbeit als Netzwerker verdankte die Firma manchen Coup, von Vladimir Nabokovs "Lolita" (1959) bis zu den Memoiren des sterbenden Papstes Johannes Paul II. (2005). Den hatte Weidenfeld jahrelang umworben, durfte dem Polen jeden Sommer auf dessen Sommerresidenz Castel Gandolfo die Aufwartung machen.

Die Affinität zum Christentum, egal welcher Provenienz, hinderte den seit 1976 als Lord Weidenfeld of Chelsea dem Oberhaus angehörenden Weltmann nicht daran, ein bekennender Jude zu sein und zu bleiben – keineswegs sonderlich religiös, eher ein Zionist alten Schlages. Israels erstem Präsidenten Chaim Weizmann diente er 1948 ein Jahr lang als Kabinettschef, und bis zuletzt verging "kein Tag, an dem ich nicht ans irdische Jerusalem denke".

Viermal verheiratet

In England und seiner Hauptstadt – im feinen Stadtteil Chelsea bewohnte er eine elegante Wohnung mit Blick auf die Themse – sei er sehr glücklich, aber doch "immer ein wenig Beobachter geblieben", gab Weidenfeld vor zehn Jahren zu Protokoll. Frauen gegenüber blieb er selten Beobachter: viermal verheiratet, zuletzt mit Annabelle Whitestone, der 25 Jahre jüngeren letzten Geliebten des Pianisten Artur Rubinstein, zwischendurch "turbulente Affären", "beiläufige Seitensprünge" und "romantische Abenteuer", wie er seinen 1994 erschienenen Memoiren anvertraute. Er ziehe die Gesellschaft von Frauen irgendwelchen Männerclubs vor: "Frauen haben nuanciertere Gedanken als Männer." (Sebastian Borger aus London, 20.1.2016)