Wien – Es sind ungeheure Fußstapfen, die Nikolaus Harnoncourt in der Interpretationsgeschichte und als Leiter seines Concentus Musicus Wien hinterlassen hat. Seit er sich Anfang Dezember aus gesundheitlichen Gründen zurückziehen musste, stellte sich die Frage, wie mit diesen Spuren umzugehen sei. Wie ihnen folgen, ohne sich darin zu verlieren? Es hatte gerade symbolkräftigen Charakter, dass die Jubiläumsvorstellung zum zehnjährigen Bestehen des Theaters an der Wien mit einer Aufführung von Beethovens einziger, dafür in drei Versionen überlieferter Oper weniger einer Rückschau als einem Blick in die Zukunft gewidmet war.

Beim ersten Auftritt des Concentus nach der Ära Harnoncourt schwang mit ihrem ganzen Gewicht die Frage mit, wie es mit dem Ensemble weitergehen und wer künftig diesen Weg bestimmen würde. Die gespielte Fassung – Fidelio in jener Version aus dem Jahr 1806, als das Stück noch Leonore hieß – hatte Harnoncourt noch selbst vorbereitet. Per Videobotschaft wandte er sich nochmals an das Publikum, um "einen aufwühlenden Abend" zu wünschen. Dann war es an Stefan Gottfried, dem Continuo-Spieler und Assistenten Harnoncourts, vom Pult aus die Sache zu seiner eigenen zu machen. Natürlich gibt es den Concentus-Stil, der an diesem Abend fast unbeschadet vorhanden war: einen rhetorisch geprägten Grundgestus, eine Dynamik innerhalb jeder musikalischen Gestalt, eine extreme Abstufung der Klangqualitäten mit Betonung des Rauen und Fragilen, was auch aus den verwendeten Originalinstrumenten hervorgeht.

Intensiver Ausdruck

Natürlich ging es auch darum, das Zusammenspiel mit der Bühne zu organisieren, wo Juliane Banse als Leonore heroisch die Last der Partie bewältigte und dabei manche Herbheit zur Intensivierung des Ausdrucks umfunktionierte. Wo Michael Schade einen zuerst in sich gekehrten, dann strahlend triumphierenden Florestan entwickelte. Wo jeder und jede im Ensemble, so wie es Harnoncourts Besetzungen immer ausgezeichnet hat, schon rein vokal einen vielschichtigen Charakter repräsentierte, während Herbert Föttinger als Sprecher die Handlung konzentriert zusammenfasste. Gottfrieds Umgang mit beidem war gleichermaßen souverän wie ausgeglichen zwischen Reagieren und sanfter Lenkung.

Natürlich spricht er wie alle Concentus-Mitglieder und dessen sängerische Mitstreiter die Sprache Beethovens vor allem durch die Vermittlung und Übersetzung Harnoncourts. Doch spricht er sie auf seine eigene Weise – wie sich an vielen dirigentischen Gesten und ihrer klanglichen Entsprechung ebenso sehen ließ wie am großen Ganzen, vor allem beim Umgang mit den Tempi: Gottfried verfuhr hier ebenso frei, wie dies von Beethoven überliefert ist – aber deutlich organischer, als dies Harnoncourt selbst häufig tat. Namenlose Freude. (Daniel Ender, 18.1.2016)