Bei der Diskussion um die Präsidentschaftskandidaten habe ich im Falter mit Interesse und Mitgefühl die Worte von Andreas Khol gelesen, der 1941 auf der norddeutschen Insel Rügen zur Welt kam: "Ich bin ein Südtiroler. Mein Vater wurde ausgewiesen." Im Jahr 1947 sei er "als staatenloses Kind nur mit einem Rucksack am Brenner gestanden". Erst 1949 habe er die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten. Sein Rivale Alexander Van der Bellen ist auch ein "Flüchtlingskind": Er wurde 1944 in Wien als Kind geflüchteter russisch-estnischer Eltern geboren und wurde 1958 Österreicher. Auch Kardinal Schönborn leitete übrigens kürzlich seine scharfe Kritik an der Solidaritätsverweigerung der polnischen und slowakischen, tschechischen und ungarischen Regierungen mit der symbolträchtigen Bemerkung ein, dass er selbst mit neun Monaten ein Flüchtlingskind gewesen sei.

Diese Beispiele und die unauslöschliche Erinnerung an die mehr als 180.000 Ungarn-Flüchtlinge, die 1956/57 in einem kurz vorher frei gewordenen Land, praktisch ohne Bundesheer, von einer bewundernswert mutigen schwarz-roten Koalitionsregierung und einer beispiellos hilfsbereiten Bevölkerung aufgenommen wurden, rufen die Worte von Joseph Roth (aus der Kapuzinergruft) in Erinnerung: "Österreich ist kein Staat, keine Heimat, keine Nation. Es ist eine Religion. Die einzige Übernation, die in der Welt existiert hat." Und die Österreicher haben die Bewährungsprobe der Menschlichkeit auch 1968 (die Tschechoslowakei), 1981 (Polen), 1995 (Bosnien) und 1999 (Kosovo) ebenso bestanden wie 2015, als rund 90.000 (dreimal so viele wie 2014) Asylwerber gezählt wurden.

Natürlich sind viele dieser Menschen aus fernen Ländern, vielleicht sogar die Mehrheit jener, die über die Balkanroute nach Deutschland, Österreich und Schweden gelangen, nicht etwa mit den Flüchtlingen vor Krieg und Diktatur aus Jugoslawien oder Ungarn zu vergleichen. Natürlich sind Widerstände bei fast einer halben Million Arbeitslosen in Österreich und bei 22,5 Millionen Arbeitslosen in der Eurozone gegen die ungesteuerte Völkerwanderung festzustellen. Natürlich ist es ein Skandal, wenn etwa unsere östlichen Nachbarn mit Schadenfreude die Flüchtlingskrise als "deutsches Problem" bagatellisieren oder wie die Griechen Hunderttausende nach Mazedonien verschieben oder dass der italienische Premier Matteo Renzi die Zuteilung der Türkei zugesagten drei Milliarden Euro mit fadenscheinigen Argumenten blockiert.

Die Erklärungen des EU-Kommissionschefs Jean-Claude Juncker und des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble lassen keine Zweifel aufkommen, dass es sich hier um ein gesamteuropäisches Problem handelt. Ohne die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Reisefreiheit sei der Euro sinnlos. An die katastrophalen Wirtschaftsfolgen und die enorme Gefährdung der Arbeitsplätze nach einer sinnlosen Rückkehr zur nationalen Abschottung sollte auch die politische und wirtschaftliche Elite der österreichischen "Übernation" – trotz Wahlkampfs – denken. Im 21. Jahrhundert führt eine aus wahltaktischen Überlegungen betriebene Kampagne "Feindbild Flüchtling" in die Sackgasse. (Paul Lendvai 18.1.2016)