Louis-Simon Boizot (1743–1809), "Nature", 1794 gefertigt in der berühmten Manufaktur von Sèvres.

Großbritanniens Premier David Cameron wirbt im Monatstakt um Angela Merkels Einverständnis zu schemenhaften Reformideen. Zunehmend hektischer bemühen sich Befürworter und Gegner der EU um die Gunst der Wähler, schließlich wird in diesem Jahr die Volksabstimmung über den Verbleib im Brüsseler Club erwartet. Fast immer ist von einem Gegensatz die Rede, als gehörten die Britischen Inseln nicht zu Europa, geografisch, politisch, wirtschaftlich, kulturell.

Vergewissern wir uns also, und streben wir einer Trutzburg im Londoner Stadtteil Kensington zu. Das Victoria and Albert Museum, kurz V&A, benannt nach der Monarchin des 19. Jahrhunderts (1837–1901) und ihrem 1861 verstorbenen deutschen Ehemann, beherbergt das laut Selbstbeschreibung "weltweit führende Museum für Kunst und Design". Gerade wurde die Umgestaltung des gesamten Vorderflügels abgeschlossen, ganz neu erstrahlt die Galerie Europa 1600–1815.

Zum ersten Mal haben nun die im Tiefgeschoß gelegenen Räume Tageslicht, sind lichter, luftiger und offener geworden. Die Säle waren in den 1950er-Jahren erstmals eingerichtet worden, als Hommage an den übel zugerichteten Kontinent und als Gegensatz zur Brutalität und Menschenverachtung Nazideutschlands, deren sich Großbritannien und seine Verbündeten im Zweiten Weltkrieg erwehren mussten.

Seht her, lautete damals die Aufforderung an das britische Publikum: Europa ist nicht nur Brutstätte verbrecherischer Ideologien, sondern Hort von Schönheit, Begabung, Handwerkskunst.

Aufnahmefähige Handtasche

Welches Haus hätte diese Botschaft damals besser verkünden können als das vom deutschen Prinzgemahl Albert konzipierte Museum. Seit mehr als 150 Jahren stellt das V&A einen Mischmasch aus Bildhauerei und Malerei, Zeichnungen und Keramik, Kunstgewerbe und Handwerk dar, und alles auf höchstem Niveau. Man frage sich ja, "was diese widersprüchlichen, wenn auch großartigen Sammlungen" miteinander verbinde, formulierte es Roy Strong, ein ehemaliger Direktor, treffend: "Und die Antwort ist: Es gibt keine Verbindung. Das Museum ist eine extrem aufnahmefähige Handtasche."

Nun kramen wir also gewissermaßen in deren europäischem Fach. Gleich nach dem Haupteingang geht es einige Stufen hinunter, und man sieht sich der großartigen Statue des Neptun von Gian Lorenzo Bernini (1598–1680) gegenüber. Daneben seine erotisch-fromme Skulptur für das Grabmal der heiligen Ludovica Albertoni: Eine Hand liebkost die rechte Brust, der Kopf ist in barocker Ekstase zurückgeworfen.

Weiter hinten steht ein reichhaltig verzierter Sekretär für Gallus Jacob, einen Finanzminister des Würzburger Fürstbischofs, aus der Werkstatt von Servatius Arend. In einem Geheimfach fanden Restaurateure eine handschriftliche Notiz der Hand-werker vom 22. Oktober 1716. Sie klagen über mangelnde Ernährung und bitten "Gott um die ewige Ruhe und Erlösung": Vor 300 Jahren, als Krieg und Krankheit täglich den Tod bringen konnten, gewiss keine einfach dahingesagte Phrase.

Je näher die Galerie dem Napoleonischen Zeitalter kommt, desto mehr lösen französische Künstler und Handwerker ihre Kollegen aus den Niederlanden, Italien und Deutschland ab. Frankreich wurde zum ästhetischen Vorbild des auch damals schon grenzüberschreitend denkenden Adels und Bürgertums. An Louis-Simon Boizots Porzellanfigur Nature, 1794 gefertigt in der berühmten Manufaktur von Sèvres, saugen zwei Kinder so begierig wie andere europäische Eliten an den Brüsten Frankreichs.

Aber wo bleiben die Verweise auf die intensive gegenseitige Befruchtung von Insel und Kontinent? Predigt nun auch das V&A deren Gegensatz? "Das V&A war immer schon kosmopolitisch, Internationalität brauchen wir nicht zu predigen. Ich kenne kein moderneres Haus", sagt Direktor Martin Roth. Er ist gewissermaßen der lebende Beweis dafür, dass die Briten sich gern Talente vom Kontinent zunutze machen.

Menschen weiter als Politik

Gabriele Finaldi, ein Londoner mit Migrationshintergrund, leitet die Nationalgalerie, der polyglotte Hamburger Hartwig Fischer das British Museum. V&A-Boss Roth ist unüberhörbar Stuttgarter und ganz selbstverständlich Europäer – wie die Briten, mit denen er umgeht." Wir arbeiten hier im Team mit Dutzenden von Nationen.Was Europa angeht, sind die Menschen weiter als die Politik."

Aber macht ihm die Volksabstimmung nicht Sorge? Roth zitiert den sowjetischen Spion Rudolf Abel aus Stephen Spielbergs neuem Film: Would it help? Würde es helfen, sich Sorgen zu machen über etwas, was man ohnehin nicht beeinflussen kann? Da arbeiten Roth und seine Leute lieber weiter, mit britischer Gelassenheit und europäischem Anspruch. (Sebastian Borger aus London, 14.1.2016)