"Ich bin hier der Älteste. Wenn ich nicht hier wäre, wäre ich woanders der Älteste": Martin Walser, der im März seinen 89. Geburtstag feiert.

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Wien – "Ich habe gehen gelernt: seitdem lasse ich mich laufen", schreibt Nietzsche, der nach wie vor zur bevorzugten Abendlektüre Martin Walsers gehört.

Das Gegenteil davon, nämlich das Rennenwollen, ohne zuvor das Gehen gelernt zu haben, ist vielen Figuren in Walsers Werk eingeschrieben. Fast alle – ob sie nun Gottlieb Zürn, Herbert Meßmer oder wie im vorliegenden Fall Theo Schadt heißen – sind sie "Unterlegenheitsspezialisten" in einer Konkurrenzgesellschaft. Befremdet von sich und den anderen, üben sie in vollem Bewusstsein ihrer "Immunschwäche der Seele" den aufrechten Gang, um doch immer wieder ins Stolpern zu geraten.

Letzteres ausgelöst vor allem durch allerlei unerfüllbare Liebesgeschichten, in die sie sich stürzen. Und vielleicht ist es diese tapfere Unbeirrbarkeit, die nicht erlahmende Hoffnung auf ein anderes, freieres Leben und die Liebe, die die Protagonisten dieses Autors trotz all ihres Egoismus immer noch so anziehend macht. Oder, wie in Walsers neuem Buch "Ein sterbender Mann" (Rowohlt, € 20,60), so tragisch.

Krankheit zum Tod

Oberflächlich betrachtet, ist der Inhalt des neuen Romans des Autors, der im März seinen 89. Geburtstag feiert und nach wie vor fast jährlich einen Roman vorlegt, schnell erzählt. Wie bei seinem Buch "Das dreizehnte Kapitel" (2012) handelt es sich um einen Briefroman, wieder heißt die Frau des Antihelden Iris, und wieder geht es um Verrat. Um Treue somit auch, deren die 72-jährige Hauptfigur Theo Schadt so bedürftig gewesen wäre. Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann, Chef einer, nein, seiner Firma für medizinische und kosmetische Patente mit 40 Mitarbeitern. Daneben schrieb er unter einem Pseudonym mehrere hunderttausend Mal verkaufte Lebenswegweiserbücher mit Titeln wie "Schwindelfrei. Anleitung zum Selberdenken".

Durch seine Verlegerin lernte er dann jenen Mann kennen, der zunächst sein bester Freund und schließlich sein Verhängnis wird. Er heißt Carlos Kroll und ist Lyriker, seine schwer an die Leser zu bringenden Bücher gelten als Sprachereignisse. Kroll ist im Gegensatz zum Kapitalisten Schadt ein Revoluzzer und ein "Genie. Vielleicht auch zwei."

Trotz aller Gegensätzlichkeit entwickelt sich zwischen den beiden eine Lebensfreundschaft, die allerdings zulasten Theos etwas zum Ungleichgewicht tendiert und schließlich ins Kippen gerät. Und das geht so: Theo steht vor einem großen Geschäft in den USA, für das er finanziell alles riskiert. Zunächst sieht es gut aus, doch der Deal mit den Amerikanern platzt, den Zuschlag erhält Theos verhasster Konkurrent Oliver Schumm – dem Kroll offenbar Theos Verhandlungsstrategie verraten hat. Warum, wird sich im Lauf des Romans weisen.

Theo aber ist, während Schumm das Geschäft seines Lebens macht, ruiniert, er verliert alles, Firma, Geld und Seelenfrieden. In einer Welt, in der ein solcher Verrat möglich ist, will Theo nicht mehr leben, er schreibt sich in ein Suizidforum im Internet ein, um dort zu lernen, wie man "es" am sichersten macht.

Unüberbrückbare Distanz

Diese Geschichte ist gleichsam der Köder, den Walser auf wenigen Seiten auswirft, um den Leser in eine komplexe Erzählmechanik hineinzuziehen, die der Roman aus geschriebenen und nur gedachten, aus nicht abgeschickten oder nicht angekommenen Briefen und E-Mails entwickelt. Theo schreibt an einen Schriftsteller, postet Beiträge im Suizidforum und verfasst Mails an Aster, die sich auf derselben Plattform eingeschrieben hat.

Er notiert aber auch Aphorismen ("Ich bin hier der Älteste. Wenn ich nicht hier wäre, wäre ich woanders der Älteste"), er wendet sich schriftlich an seine Frau Iris und an Sina, die er im Tangoausrüstungsladen seiner Frau, in dem er nach seinem "Sturz" arbeitet, an der Kasse kennengelernt hat. Manche Adressaten schreiben ihm sogar zurück.

Doch mit der Bekanntschaft mit besagter Sina, für die Theo seine 30 Jahre währende Ehe opfert – obwohl er Sina bis auf das eine Mal an der Kasse nie mehr sehen, ihr immer nur schreiben wird – und der Diagnose Darmkrebs, die seine Selbstmordpläne obsolet macht, ist dieser Roman noch lange nicht an seinem entscheidenden Punkt.

Ganz im Gegenteil, denn nach und nach merkt der Leser, dass in diesem Buch über unbewältigte Nähe und unüberbrückbare Distanz alles miteinander zusammenhängt. Oder alle, sie durchschauen es nur nicht. Wie in einer griechischen Tragödie setzen die nahtlos ineinandergreifenden Lebenszahnräder einen Mechanismus in Gang, der kolportagehaft schiene, wäre das Thema nicht so existenziell. Am Schluss sind wie in Walsers Roman "Muttersohn" (2011) alle tot – außer dem lebensmüden Theo.

"Ein sterbender Mann" ist in dem Sinne ein typischer Walser-Roman, als der Autor der Devise "Leicht bleiben im Ton, auch bei schwerster Bedeutung" treu bleibt – und das radikal. Typisch sind aber auch die teilweise lähmend langatmigen Passagen der zuweilen zur Geschwätzigkeit neigenden Hauptfigur, die aber immer wieder von dichten und präzisen Binnenerzählungen, etwa der in einem Brief Sinas geschilderten Suche nach dem unbekannten Vater in Nordafrika, gebrochen werden. Auch er, wird sich herausstellen, ist nicht mehr am Leben.

"Ein sterbender Mann" ist kein Buch über das Alter, wie der Klappentext nahelegt, es ist ein Buch über Freitod und Tod, auch den der Wünsche. Und es ist ein Roman über das Aufbegehren dagegen. "Alles wollend", schreibt Theo an seine Sina, "lernst du das Mögliche kennen. Wenn auch nicht akzeptieren." (Stefan Gmünder, 7.1.2016)