Tintin-Experte und Derrida-Biograf: Benoît Peeters.

Foto: Univ. of Lancaster

Die Sehenswürdigkeiten Lancasters im Nordwesten Englands halten sich in Grenzen. Gut, es gibt eine Kathedrale, und vom Williamson Park aus hat man einen schönen Blick über die Bucht von Morecambe. Aber das Städtchen mit knapp 50.000 Einwohnern kannte man bisher vor allem von der Durchreise zum lieblichen Seendistrikt – und als Sitz einer erfolgreichen Universität. Immerhin hat es das Bildungsinstitut mit seinen 13.000 Studenten unter die zehn besten des Landes geschafft.

Ein neu eingerichteter Lehrposten erhöht nun schlagartig Lancasters Bekanntheitsgrad. In Zusammenarbeit mit einem örtlichen Comicfestival hat die Universität nämlich den ersten Professor für grafische Fiktion und Comic-Kunst berufen. Drei Jahre lang soll Benoît Peeters Vorträge halten sowie Doktoranden betreuen. Dabei werde der neue Kollege keineswegs "nur mit den Studenten Manga-Comics lesen", wie Simon Guy, Dekan der Fakultät, beteuert. Vielmehr gehe es um die Analyse von Comics als Kunstform, die "eine Reihe von sozialen, kulturellen, ökonomischen und technischen Neuerungen" in sich vereint.

Beim Teutates, hätte Asterix gesagt. Der neue Würdenträger, 59, ist für die ebenso neue Aufgabe nämlich so etwas wie eine Idealbesetzung. Der Franzose Peeters verfügt nicht nur über einen Abschluss in Philosophie an der Pariser Sorbonne. Er veröffentlichte bereits im zarten Alter von 20 Jahren seinen ersten Roman und arbeitet seit mehr als 30 Jahren mit François Schuiten an der mehrfach preisgekrönten Comicserie Les Cités obscures (Die geheimnisvollen Städte). Vor allem gilt Peeters als Koryphäe in Tintin-Studien, benannt nach dem gleichnamigen Helden jener Comicserie, die in Deutschland unter dem etwas sperrigen Titel Tim und Struppi bekannt ist.

Kunst als Katalysator

Standesgemäß stellte die Universität ihren neuen Star am Rande einer Tintin-Ausstellung in Londons Somerset House vor. Seine Lehrtätigkeit ab kommenden Sommer werde sich aber keineswegs auf den ewig jungen Detektiv-Journalisten und dessen vierbeinigen Begleiter beschränken, versichert Peeters. "Hoffentlich kommen Studenten zu mir mit neuen Themen, die zu ihrer Generation passen." Er habe seinerzeit seine Doktorarbeit über Comics schreiben wollen, was aber völlig unmöglich gewesen sei. Mittlerweile habe sich das Kulturverständnis jedoch weiterentwickelt. "Die heutige Generation ist mit klugen Comics großgeworden und akzeptiert diese als echte Kunstform."

Ob das an Philosophen wie Jacques Derrida liegt? Über den Dekonstruktivisten hat Peeters eine vielgelobte Biografie geschrieben, ebenso über den Belgier Hergé alias Georges Remi, den als Nazikollaborateur verdächtigten Schöpfer von Tim und Struppi.

In Lancaster soll der neue Professor als Katalysator wirken: Die Kunstform werde nicht nur die Literaturfakultät bereichern, schwärmt der Dekan, sondern auch andere Disziplinen wie die Philosophie befruchten. Vielleicht können sogar die Betriebswirte vom Umgang mit Comics profitieren? Jedenfalls habe die Comicindustrie "kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung, deren Wert in die Milliarden geht".

Weil hochfliegende Kulturprojekte aber immer auch Geld kosten, haben die englischen Comicliebhaber für Peeters listig einen Fördertopf vom Kontinent angezapft. Finanziell unterstützt wird dessen Tätigkeit auf der Insel vom Kulturfonds Wallonia Brussels International (WBI). Dieser hat sich zum Ziel gesetzt, den Bekanntheitsgrad frankofon-belgischer Kultur in Großbritannien zu verbessern. Sapristi, würde Tim dazu wohl sagen. (Sebastian Borger, 2.1.2016)