Integration, aber wie? Für Andockstellen sorgen, aber auch "starke ethnische Netzwerke, aus denen die Leute nicht rauskommen, übrigens vor allem Frauen, verhindern und aufbrechen", sagt Armin Nassehi.

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STANDARD: Die Flüchtlingswelle ist jahreszeitbedingt vorerst etwas abgeebbt. Jetzt sind sie da, zigtausende, in Deutschland hunderttausende Flüchtlinge. Und jetzt? Irgendwann, nach der ersten Akuthilfe, muss es anfangen: das neue Leben, das aus Geflüchteten irgendwann neue Bürgerinnen und Bürger machen soll. Wie geht "Integration"?

Nassehi: Wir haben in fast allen europäischen Ländern Erfahrung mit Einwanderung, die nicht auf Dauer angelegt war. Bei der Arbeitsmigration in den 1950er-/ 60er-Jahren dachten wir auch, dass die Leute relativ bald wieder verschwinden, wenn wir sie nicht mehr brauchen. Interessanterweise gab es da niemanden, der sich um Integration Gedanken gemacht hat, und trotzdem kann man sagen, ist ein großer Teil, nicht alle, ganz gut in der Gesellschaft integriert.

STANDARD: Wie ist das gelungen?

Nassehi: Im Nachhinein betrachtet geht es fast immer nur darum, eine Lebensform zu finden, in der man genauso wie die Autochthonen, die Einheimischen, die Grundprobleme des Lebens lösen kann: einen Arbeitsplatz hat, Familie haben kann, die Kinder durchbringt, am Bildungssystem partizipieren und ein unaufgeregtes Leben führen kann. Das hört sich nicht wie ein großspuriges Integrationskonzept an, aber das heißt letztlich Integration in die Gesellschaft. Dass wir uns zu spät darum gekümmert haben, hat zumindest in Deutschland die Auswirkung, dass die Abkömmlinge dieser Migranten in der dritten Generation noch immer das höchste Bildungsarmutsrisiko haben. Galt in den 1950er-Jahren das sprichwörtliche katholische Mädchen vom Lande als höchste Risikogruppe, ist es jetzt der muslimische Junge in der Großstadt.

STANDARD: Sie fordern von der Politik "gezielte Inklusion". Wie?

Nassehi: Wir müssen für Andockstellen sorgen und verhindern, dass segregierte Gruppen entstehen. Die Leute müssen in die Bildungssysteme rein und die Sprache lernen, damit sie Lebenschancen nutzen können. Wir müssen die Wirtschaft ins Boot holen, denn wir wissen, dass wir in Zukunft ein demografisches Problem haben werden, das auch mit Fachkräftemangel zu tun hat. Zu dieser Inklusion gehört auch, zeitgemäße Rechtsstatus zu entwickeln. Wenn Menschen eine Zukunftsperspektive entwickeln können, werden sie sich anders in die Gesellschaft integrieren. Es muss klar sein, dass man starke ethnische Netzwerke, aus denen die Leute nicht rauskommen, übrigens vor allem Frauen, möglichst verhindern und mit rechtsstaatlichen Mitteln aufbrechen muss. Und man muss womöglich dafür sorgen, dass sich die religiöse Praxis an eine europäische Form anpasst. Wir haben es im Moment leider mit einem wahhabitischen Islam zu tun, der sehr stark von Saudi-Arabien exportiert und finanziert wird. Diese Version des Islam ist mit der westlichen Zivilisation nicht kompatibel. Aber es gibt auch andere Versionen, darum müssen sich auch die europäischen Länder kümmern.

STANDARD: Tatsächlich kommt es durch die Flüchtlinge auch zu einer auffälligen Rückkehr der Religion bzw. ihrer Sichtbarkeit im öffentlichen Raum. Wie lässt sich das in säkulare, moderne Gesellschaften integrieren – ohne Einschränkung errungener Freiheiten?

Nassehi: Wir wissen aus der Forschung, dass religiöse Segregation, wenn Menschen in ihrer religiösen Gruppe bleiben und dies das wichtigste Merkmal ihres Lebens ist, immer eine Folge von Desintegration ist. Religion wird als Ressource verwendet, wenn die Dinge nicht gut funktionieren. Interessanterweise kamen in den 1950er-Jahren eigentlich keine Muslime, obwohl die türkischen Gastarbeiter natürlich Muslime waren. Sie haben sich erst später als Muslime definiert, auch als Reaktion auf misslungene Integration. Aber es gibt auch einheimische Jugendliche, die positiv auf Angebote islamistischer Gruppen reagieren. Das ist ein Hinweis darauf, dass Religion eine Identitätsressource ist – und in Krisenzeiten ist es dann womöglich das einzige Identitätsmerkmal. Wir wissen aus unserer eigenen europäischen Religionsgeschichte, wie voraussetzungsreich es ist, dass dies nur ein Identitätsmerkmal unter anderen ist. Der Konflikt zwischen den Konfessionen hat vor gar nicht allzu langer Zeit ganze Familien gespaltet. Mein Vater war Muslim, der in den 1950er-Jahren aus Persien eingewandert ist, meine Mutter kam aus einer extrem konservativen katholischen Familie, und die haben immer gescherzt: Ein Muslim ist okay, aber einen Protestanten hättest du uns nicht ins Haus bringen dürfen. (lacht) Das ist zwar ein Witz, aber da ist was dran. Was ich damit sagen will: Man muss verhindern, dass diese Ressource die einzige und entscheidende Ressource des eigenen Lebens wird.

STANDARD: Wie funktioniert das?

Nassehi: Die Leute müssen eine Perspektive haben, indem man starke Segregation und Netzwerke aufbricht, und man muss Akteure, die hier in Organisationen eine Radikalisierung des Islam betreiben, stark bekämpfen. Da sind wir bisweilen viel zu tolerant. Da ist manches möglich, was wir den eigenen christlichen Kirchen niemals durchgehen lassen würden.

STANDARD: Was zum Beispiel?

Nassehi: Eine Segregation der Geschlechter in der Öffentlichkeit etwa – oder Koranschulen, in denen Hass gepredigt wird, müssen geschlossen werden. Darauf müssen wir ein Auge haben, so wie wir auch mit den christlichen Kirchen Religionspolitik gemacht haben. Warum werden Religionslehrer an staatlichen Universitäten ausgebildet? Warum sind Theologieprofessoren Beamte? Weil man damit die Wildheit des Religiösen einhegen konnte. Das Problem des Islam ist, dass er keine Kirche hat, mit der man sprechen kann. Das ist der große zivilisatorische Fortschritt des Christentums, dass es diese Adressen gibt, die sich dadurch eben selbst modernisiert haben.

STANDARD: Sie haben in einem Text für "Die Welt" geschrieben: "Es wird womöglich zu einer ,Maskulinisierung' öffentlicher Räume kommen – insbesondere durch junge Männer." Was meinen Sie damit?

Nassehi: Ich meine damit natürlich nicht, dass junge muslimische Männer oder Männer mit dunkler Hautfarbe automatisch problematische Personen sind. Gemeint ist, dass sehr viele junge Männer kommen, und wenn man Communitys von jungen Männern hat, egal welche, die den ganzen Tag nichts zu tun haben, die man womöglich am Arbeiten hindert, dann kommen die auf blöde Ideen, und es gibt Konflikte. Wir haben in unterschiedlichen radikalisierten Bereichen der Gesellschaft von rechts und links vor allem ein Problem mit jungen Männern. Man muss genau diesen Gruppen Integrationsmöglichkeiten und etwas zu tun geben.

STANDARD: Sie verlangen eine Integrationsstrategie, "die auch von den Ankömmlingen etwas verlangt" – was zum Beispiel?

Nassehi: Dass die Leute Deutsch lernen, muss man verlangen, oder dass sie die Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten dieser Gesellschaft in Anspruch nehmen – eigentlich wäre das gelebte Willkommenskultur. Ich bin da auch ganz optimistisch, denn gerade Flüchtlinge haben schon eine Idee davon, dass sie sich auch selbst um sich kümmern müssen, sonst wären sie nicht geflohen. Worauf wir achten müssen, ist, dass nicht alle automatisch nur in die Transferbereiche der Gesellschaft reinkommen, weil das produziert eine Passivität, an die man sich dann auch gewöhnt und die das Scheitern der nächsten Generation geradezu vorprogrammiert. Man müsste von vornherein sagen, die Leute müssen in Arbeitsprozesse rein, und wenn es die nicht gibt, muss man sie erfinden und diese Möglichkeiten fördern. Ohne Eigenaktivität gibt es keine Integration. Das betrifft aber beide Seiten. Integration heißt, dass sich alle Teile eines Systems wechselseitig aneinander anpassen.

STANDARD: Apropos anpassen, da sind wir bei "Werten". Österreich will Flüchtlinge in "Wertekurse" schicken, um ihnen das ortsübliche Wertegefüge zu vermitteln. Ist es das, was Integration gelingen lässt?

Nassehi: Das ist gut gemeint. Es geht dann um Gleichberechtigung der Geschlechter oder Homosexualität. Plötzlich entdecken aber Leute diese Themen, die das bisher nicht mit der Kneifzange angefasst hätten. Im Übrigen lernen wir Werte nicht in Kursen, sondern in Praktiken, in denen sie sich bewähren. So haben wir auch unsere Werte gelernt, nicht, indem wir das Grundgesetz gelesen haben. Integration gelingt immer nur darüber, dass man die Werte über Praktiken lernt. Sorry, das ist die abstrakte Antwort eines Soziologen. Einfacher wäre es zu sagen: Lasst uns einen Wertekatalog machen, auf den wir alle einschwören, aber machen Sie das mal bei den Einheimischen. Konfrontieren Sie die mal mit den Werten, um die es da geht. Da wird man ein blaues Wunder erleben. (lacht) (Lisa Nimmervoll, 2.1.2016)