So wenig wir wissen, aus welchem Grund in den meisten Parlamenten die einen rechts und andere links sitzen, so gut wissen wir seit rund zwei Jahrhunderten über den Gegensatz zwischen Rechten und Linken Bescheid. Wie kaum eine andere politische Klassifikation überdauerte diese den Wandel der Zeiten, sodass die Vermutung wohl berechtigt ist, damit werde etwas zum Ausdruck gebracht, was ohne funktionales Äquivalent ist.
Mindestens zwei Vorzüge weist diese Einteilung auf, die ihr langes Überdauern zu erklären vermögen. Erstens ist sie kein Schwarz-Weiß-Unterschied. Zwischen den Extremen gibt es Abstufungen. Deswegen können wir auch noch kleinste Unterschiede als mehr oder weniger rechts/links wahrnehmen. In den politischen Arenen der Vergangenheit wurde dieses Schauspiel oft genug aufgeführt. Oft wurde mehr Zeit darauf verwendet, zu vermessen, wer rechts/links abwich, statt auch nur ein Problem zu lösen.
Viele Differenzen
Der zweite Pluspunkt ist, dass auf diese eine Dimension viele andere Differenzen abgebildet werden können. Die längste Zeit war "rechts/links" zugleich eine vertikale soziale Distinktion. Die Ausdehnung der politischen Beteiligung und der Kampf um das Wahlrecht ließen sich unschwer auf dieser Dimension auftragen: Das lange 19. Jahrhundert lang wehrten sich die wenigen Oberen auf der Rechten dagegen, dass die vielen Unten sich auf der Linken als politische Partei zusammenrotteten.
Die Rechts-links-Spreizung war so überzeugend, dass sich ihrer sogar Geschichtsphilosophen und Ästheten bedienten: Sozialer Fortschritt bedeutete, weiter nach links zu rücken, mehr Gleichheit für eine immer größere Zahl von Menschen zu fordern. Rechts stand für gestern, links war morgen. Generationen von Heranwachsenden positionierten sich ein bisserl oder deutlich weiter Richtung eines Extrems als ihre Altvorderen. Ästhetisch stand die Moderne gegen alle Tradition, und selbst jene, die meinten, sich jenseits von rechts und links platzieren zu sollen, schilderten ihre neue Position dann doch mit dem alten Vokabular.
Quer zur Rechts-links-Ordnung, die wie ein Schwamm alles aufsog, gab und gibt es andere, ebenfalls bedeutsame Unterscheidungen, die sich nachdrücklich dagegen wehren, auf die dominante Dimension abgebildet zu werden. Distinktionen zwischen Religionsgemeinschaften sind bekanntermaßen stark genug, um die Opponenten in den Krieg ziehen zu lassen. Sie ließen sich selten auf der Recht-links-Achse auftragen. Evangelikale findet man in beiden US-amerikanischen Parteien. Protestanten waren hierzulande zwar häufiger Parteigänger der Nazis, aber das hing mehr damit zusammen, dass die Lutheraner sich für vergangene Diskriminierung an den vordem Mächtigen rächen wollten, als daran, dass man eine Wahlverwandtschaft zwischen Luther und Hitler behaupten könnte.
Das moderne Gegenstück zu den Religionskriegen sind die Nationalstaaten, ihre Rivalitäten und Gefechte. Hier wie da geht es um Wir-Gruppen, die sich von mindestens einem Rivalen fundamental unterscheiden wollen. So wenig Religionen auf einer Skala aufgetragen und abgestuft werden können, so selten fanden miteinander in Konkurrenz verwickelte Nationalstaaten einen Ausweg in Form des Kompromisses: Wir-Gruppen funktionieren als Entweder-oder-Gruppen. Erst in jüngster Zeit breiten sich ethnisch hybride Identitäten sowie Doppelstaatsbürgerschaften aus, Ähnliches fehlt im religiösen Feld immer noch. Kinder aus Mischehen müssen gemäß Kirchenrecht immer noch katholisch gemacht werden. Wo vom interreligiösen Dialog gesprochen wird, kann ökumenisch gebetet werden, aber römisch-katholische Calvinisten gibt es ebenso wenig wie eine BiH-(Bosnien und Herzegowina)-Nation.
Bindende Zugehörigkeit
Es ist vielleicht nicht zu vollmundig zu behaupten, dass der Rechts-links-Gegensatz so langlebig war, weil er geradezu genial geeignet ist, Kompromisse zu fördern. Sich ein wenig auf den anderen zuzubewegen funktioniert zwischen diesen Polen, ist aber zwischen rivalisierenden Wir-Gruppen kaum nachweisbar. Religionen, Nationen und ähnliche Wir-Gruppen beziehen ihre bindende Kraft aus der Zugehörigkeit, die immer auch aus der Abgrenzung von anderen resultiert. Jeder Fußballfreund weiß, dass ein blasiertes Verfolgen eines Kicks weit weniger Freude bereitet, als mit den Seinen mitzuzittern und sich im Erfolgsfall auch freuen zu können.
Nun finden wir – sowohl rechts wie auch links – zunehmend öfter Parteien und Prediger, die die hier diagnostizierte orthogonale Matrix ignorieren und Wir-Differenzen politisch nutzen wollen. Was man einmal extremen Nationalismus genannt hat, lässt sich auf beiden Seiten des traditionellen politischen Spektrums finden. Doch während es sonst einen starken Zug zur Mitte gibt, wo man mehr Wähler findet, folgen den Rattenfängern immer mehr Leute, weil sich das Wir über das Rechts-Mitte-Links hinwegsetzt.
Kommentatoren und andere Handke'sche Fernfuchtler werden nicht müde, hier von Populisten und deren Irrungen zu quasseln. Es wird nicht helfen, dessen bin ich mir selbstkritisch durchaus bewusst, in diesen Wald zu rufen: "Ihr begeht einen Kategorienfehler!", aber Besseres fällt mir nicht ein.
Das endemische Geraune von den Identitäten wird nicht schwächer werden, und die vielen Wir-Gruppen, die ihre Getreuen zu Gehorsam verpflichten, werden sich nicht abhalten lassen, ihre Schalmeien ertönen zu lassen.
Wenn Politik Kompromissbildung bedeutet, dann muss sich dieses System jeglichem Wir-Gruppismus gegenüber unmusikalisch verhalten und den Tanz um die Identitäten auf andere denn Parlamentsböden verweisen.
Spontanes Fremdeln
Gleichgültig, welche Wir-Gruppe wir beobachten, ihre Mitglieder werden darauf konditioniert, auf andere mit spontanem Fremdeln zu reagieren. Spontane Reaktionen sind nützlich, ja manchmal überlebensnotwendig, weil sie dem Denken zuvorkommen. Aber sie behindern es und produzieren keineswegs immer die besten Ergebnisse. Jemand, der etwas ohne viel Nachdenken getan hat, neigt selten dazu, nachher zu bekunden, dass er nach einigem Nachdenken zu einer anderen Ansicht gekommen sei. Mediencoaches plädieren für Vorwärtsverteidigung und raten ab von Bekundungen der Unentschlossenheit.
Der israelisch-amerikanische Psychologe und Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Daniel Kahneman hat ein ganzes Buch diesem Thema gewidmet. Sein Thinking, Fast and Slow (2011, dt. Schnelles Denken, langsames Denken, 2012) liefert eine Menge anschaulicher Schilderungen der Vorzüge und Nachteile beider Systeme des Denkens. Das schnelle Denken ist überlebensnotwendig dort, wo eben schnell reagiert werden muss. Doch immer dann, wenn man ein wenig Zeit hat, bevor man etwas tun muss, erweist sich langsames Denken als erfolgreicher.
Zugehörigkeit und Gemeinschaftswärme fördern Handeln ohne viel (Nach-)Denken und stärken Gruppenbindung und Abgrenzung von anderen. Die, die nicht müde werden, ihrer Eigengruppe zu schmeicheln und sie anderen gegenüber zu erhöhen, vertiefen die Gräben, die ihr Wir von anderen trennt. Zäune sind das Gegenteil von Interessenausgleich.
Eine langsame Maschine
Politik ist eine langsame Maschine, in der Zeit zum Abwägen allein schon deswegen vorhanden ist, weil Kompromissfindung nicht ruck, zuck geht. Wir-Grupplern – egal gegen welche Fremdgruppe sie sich zusammenrotten – sollte man nur dann Gehör schenken, wenn sie signalisieren, dass sie die Existenz(berechtigung) anderer Wirs nicht infrage stellen. Wann immer sie sich weigern, diesen Schritt zu machen, sollten wir sie als politische Akteure nicht mehr ernst nehmen, sondern wie Spielverderber behandeln. (Christian Fleck, 2.1.2016)