Begann als Neunjährige in Grosny ihr nun ins Deutsche übersetzte Tagebuch: Polina Scherebzowa.

Foto: Maiju Torvinen

Am 25. März 1994 beginnt die neunjährige Polina Scherebzowa in Grosny ihr Tagebuch – kurz vor Ausbruch des Ersten Tschetschenienkriegs. Als der Krieg in jedem Winkel der Stadt tobt, will Polina einmal das von Hunden halb abgenagte Skelett eines Soldaten mit Karton zudecken und wird dafür von der Mutter beschimpft und ausgelacht. Sie muss schon froh sein, wenn die Mutter nicht mit der Faust auf sie eindrischt und sie blutig schlägt. Die Mutter hat durch den Krieg ihr Gleichgewicht völlig verloren.

Oft bleibt Polina nur das Schreiben, denn immer wieder brechen Freundschaften weg, weil alle, die können, Grosny verlassen oder weil Familien in der Nachbarschaft plötzlich die Türe nicht mehr öffnen: Mit einer Russin wollen sie nichts zu tun haben. Und aufgrund ihres Namens gilt Polina Scherebzowa als Russin. Gelegentlich kann der tschetschenische Lebensgefährte ihrer Mutter vermitteln.

Doch im Grunde ist Polina ganz auf sich allein gestellt – oft auch im alltäglichen Überlebenskampf. An vielen Tagen schlägt sich Polina von früh bis spät auf dem Markt durch und versucht, wenigstens so viel zu verdienen, dass sie etwas zu essen kaufen kann. In der Schule wird es für sie immer schlimmer, denn sie wird als "Russenschwein" verspottet und attackiert, die Lehrer sehen tatenlos zu, wenn sie sie nicht selbst als Russin diffamieren. Später überlebt Polina schwer verletzt einen Granatenangriff.

Yoga, Schreiben, Lesen

Oft fragt man sich bei der Lektüre, was ein Mensch, ein junges Mädchen noch alles aushalten kann – und was Polina die Kraft dazu gibt. Sie macht Yoga, sie schreibt, und sie liest. Nur ganz selten, wenn es gerade Strom gibt, kann sie im Fernsehen einen Film sehen. Beim Lesen dieses Zeugnisses weiß man nur eines: Polina wird überleben, sonst gäbe es ihre Tagebücher nicht.

Und Polina wird durchhalten, sie lässt sich durch nichts abbringen von ihrem unbestechlichen Blick. Sie hält fest, wie sich einzelne Menschen verhalten – ohne jedes nationale Vorurteil. Sie beschreibt Russen, die Tschetschenen helfen und umgekehrt, aber sie registriert auch das Einrasten der nationalen Stereotype und die unvorstellbaren Grausamkeiten beider Seiten. Polina lernt Tschetschenisch und kann sich unvoreingenommen für tschetschenische Musik begeistern. Als zum ersten Mal ein Mädchen in traditioneller Ganzkörperverschleierung in die Schule kommt, wird sie von den tschetschenischen Mitschülern attackiert. Nur die als Russenschwein beschimpfte Polina verteidigt sie – mit einem Ast als Waffe.

Bewaffnete Banditen nehmen Wohnungen in Beschlag, sie töten wahllos normale Bürger, aber auch einander. In dieser Atmosphäre wächst Polina zur jungen Frau heran. Sie hat wenig Zeit für pubertäre Verliebtheit. Und sie ist, auch was die Liebe betrifft, desillusioniert; sie übersteht einen Vergewaltigungsversuch und leistet Widerstand, als der Stiefvater und die Mutter sie verheiraten wollen, um sie aus dem Haus zu haben.

Dem Tagebuch vertraut sie alles an. "Ich weiß nicht, wann der Tod kommt, und nur wenn ich schreibe, habe ich keine Angst. Ich glaube, ich tue etwas Wichtiges", notiert die Elfjährige.

Man vergisst, ob Tag ist oder Nacht

Wenn man dieses Tagebuch liest, vergisst man, ob Nacht ist oder Tag; und was man gerade noch erledigen wollte, wird unwichtig. Den Aufzeichnungen der verwundeten, aber ungebrochenen Polina Scherebzowa und ihrer unbestechlichen Chronik entgeht man nicht. Sie hält fest, wie Russland 1999 gezielt den Marktplatz von Grosny bombardiert und Panzer in Fenster und Hauseingänge schießen.

Mittlerweile ist in Russland Putin an der Macht, die wichtigsten Medien sind gleichgeschaltet und berichten nicht mehr über Kriegsverbrechen. Das Nachwort des Übersetzers Olaf Kühn weist auf diesen Kontext und analysiert, was die von Polina Scherebzowa festgehaltenen Ereignisse mit dem heutigen Russland sowie mit den Konflikten in Transnistrien, Georgien und dem Krieg in der Ostukraine zu tun haben – eine dringend notwendige Ergänzung zum Kurzzeitgedächtnis der Medien.

Polina Scherebzowa stellt keine großen Analysen an, sie bleibt bei den Details, doch ihr genau registrierender Blick ist nie naiv. Sie ist jetzt dreißig Jahre alt und hat 2013 in Finnland politisches Asyl erhalten. Davor hatte sie ab 2006 in Moskau gelebt, doch ihre Kritik auch am russischen Vorgehen in Tschetschenien hatte sie unbequem ge macht – Drohungen und körperliche Attacken waren die Folge. 2014 musste sie zu einer Lesung in Moskau per Skype zugeschaltet werden.

Scherebzowas Tagebuch aus den Jahren 1994 bis 2002 zwingt einen, die Tschetschenienkriege nicht zu vergessen und das Russland Putins illusionslos zu sehen. Es kratzt aber auch an der landläufigen Unterscheidung zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen und fordert Respekt ein für den Blick eines Kindes und einer Jugendlichen, der sich zu großer Literatur weitet. Dieses Tagebuch ist das aufwühlendste und ungewöhnlichste, das in deutscher Übersetzung seit langem erschienen ist. (Cornelius Hell, Album, 30.12.2015)