Wien – Österreich hat definitiv eine Krebstherapie-Strahlenmisere. Statt notwendiger 62,5 Prozent der Patienten bekommen nur 51 Prozent eine Behandlung. Im Osten und Süden des Bundesgebietes (Wien, NÖ, Bgld., Stmk., Ktn.) fehlen massiv Bestrahlungsgeräte. Das zeigt eine aktuelle Bedarfsstudie der "Gesundheit Österreich" (GÖG).

"Das, was die 'Gesundheit Österreich' getan hat, ist eine ausgezeichnete Grundlagenarbeit. Die Gesundheitspolitik hat aufgrund der harten Zahlen eine detaillierte Darstellung, wo die Defizite liegen", sagt der Sprecher der österreichischen Patientenanwälte, Gerald Bachinger. Ähnlich äußerte sich auch der Bundesfachgruppenobmann für Radioonkologie in der Österreichischen Ärztekammer, der Strahlentherapeut Robert Hawliczek: "Der Bericht zeigt, was wir seit Jahren der Politik auf den Tisch gelegt haben. Sie hat es einfach völlig ignoriert."

Hochprozentiger Kapazitätsmangel

Der Hintergrund: Jährlich erkranken in Österreich rund 38.000 Menschen an Krebs. Im Jahr 2020 werden es mehr als 41.000 sein. 2013 schlugen internationale Experten mit Beteiligung der Internationalen Atomenergieagentur IAEO und österreichischer Beteiligung in einer wissenschaftlichen Publikation in "Lancet Oncology" Alarm. Im Vergleich zu 33 europäischen Staaten hätte Österreich einen 19-prozentigen Strahlentherapie-Kapazitätsmangel. Dabei würden 40 Prozent der Krebsheilungen durch die Strahlentherapie erfolgen.

Die österreichischen Patientenanwälte sowie die Bundesländer Wien, Burgenland und Niederösterreich verlangten in der Bundesgesundheitskommission die Erstellung einer handfesten Studie zu dem Thema. Das knapp 30 Seiten umfassende Papier liegt jetzt vor. Es wurde am 2. Dezember durch die Bundesgesundheitskommission (Bund, Länder, Städte, Gemeinden, Sozialversicherung, konfessionelle Krankenanstalten, Ärztekammer, Patientenanwälte) angenommen.

Ergebnisse bestätigt

Die erhobenen Daten sind mehr als deutlich, was die Defizite und die Verpflichtung zu deren Abschaffung bei den Landesräten und deren Ressorts speziell in Wien, Niederösterreich, dem Burgenland, der Steiermark und Kärnten betrifft. "Die Erhebungsdaten aus dem Jahr 2014 zeigen, dass in Österreich im Mittel erst 51 Prozent der Krebsinzidenzen (inklusive Wiederbehandlung; Anm.) tatsächlich eine Strahlentherapie erhalten haben", stellen die Autoren der Gesundheit Österreich GmbH fest.

Ihre Analyse der wissenschaftlichen Literatur hatte ergeben, was in "Lancet Oncology" bereits 2013 nachzulesen war: Rund 50 Prozent der Krebspatienten benötigen primär (auch) eine Strahlentherapie. Zusätzlich benötigen 25 Prozent "aufgrund einer nicht vollständig geheilten Krebserkrankung, Metastasen oder Rezidiven" eine weitere Strahlentherapie.

In Österreich gibt es aber in mehreren Bundesländern zuwenige Linearbeschleuniger, die nur in Krankenhäusern mit entsprechenden Abteilungen betrieben werden können. Dafür sind in Österreich eindeutig die Bundesländer als Spitalserhalter zuständig. Die GÖG zitiert einen Vergleich, bei dem die letztgereihten der angeführten 28 Länder wie Albanien und Bulgarien wohl nicht wirklich etwas mit der Situation in Österreich zu tun haben. Diese haben weniger als zwei Linearbeschleuniger pro Million Einwohner. Dänemark bringt es als Spitzenreiter auf rund 9,5. Norwegen und Belgien liegen bei etwas mehr als acht, Schweden kommt auf mehr als 6,5, die Schweiz auf 7,5 Geräte je Million Einwohner. Der zwischen Albanien und Dänemark gebildete Durchschnitt beträgt etwa 5,3 Geräte pro Million Einwohner. Österreich liegt knapp dahinter. "Lancet Oncology" hatte 2013 eine Relation für Österreich von 5,1 Geräten pro Million Einwohner angeführt.

Vor allem Süden und Osten unterversorgt

Fazit: Mit 43 Linearbeschleunigern insgesamt und der angegebenen Relation zur Bevölkerung liegt Österreich selbst in einem Vergleich unter Hereinnahme armer Staaten Europas auf unterdurchschnittlicher Position. Diese Gerätedichte ist in den Regionen Wien, Niederösterreich und dem Burgenland (Versorgungsregion Ost) sowie der Steiermark und Kärnten (Versorgungsregion Süd) besonders schlecht.

Die GÖG-Experten errechneten eine Quote pro Million Einwohner in der Ostregion von 4,7 (Wien, Niederösterreich, Burgenland), eine in der Steiermark und in Kärnten (südliches Österreicher) von 3,7. Oberösterreich und Salzburg (Versorgungsregion Nord) schneiden besser ab (5,1 Geräte je Million Einwohner), Tirol und Vorarlberg (Versorgungsregion West; 6,7) vergleichsweise gut. Für ganz Österreich wird eine Gerätedichte pro Million Einwohner von 4,8 (Stand 31. Dezember 2014) angegeben.

Österreichs Krebspatienten dürften jedenfalls vor allem im Süden und Osten des Bundesgebietes nicht mit einer Strahlentherapie zum ehest möglichen Zeitpunkt rechnen. Bereits eine erste Datenerhebung für das letzte Quartal 2013 in sieben Krankenhäusern in Wien und Niederösterreich hatte beispielsweise für Brustkrebspatientinnen Wartezeiten von bis zu 65 Tagen ergeben.

Lange Wartezeiten

Die "Gesundheit Österreich GmbH" errechnete im aktuellen Report die mittleren Wartezeiten auf eine Strahlentherapie. Sie ergibt aus der Zeitspanne, die zwischen dem aus medizinischer Sicht (letzt)möglichen Soll-Bestrahlungstermin und dem tatsächlichen Bestrahlungstermin liegt. In Westösterreich zeigten sich die kürzesten Wartezeiten (bis zu fünf Tage), im Versorgungsbereich Nord (OÖ, Salzburg) waren es maximal acht Tage, in der Steiermark und in Kärnten bis zu 24 Tage. In Niederösterreich, Oberösterreich und dem Burgenland lag die Wartezeit bei rund 30 Tagen.

"Nach dieser Definition dürfte jeder Tag einer solchen Wartezeit eigentlich nicht sein", betont Patientenanwalt Gerald Bachinger. Der Bundesfachgruppenobmann für Radioonkologie in der Österreichischen Ärztekammer, Robert Hawliczek, hatte im April 2014 zu den damals bekannt gewordenen Wartezeiten gesagt: "Wir verlieren Menschenleben. Jeder Tag, den wir (bei Krebspatienten; Anm.) verlieren, bedeutet schlechtere Überlebenszeiten." Zu den Daten aus dem neuen GÖG-Report erklärte Hawliczek, dass man aus methodischen Gründen nur sehr schlecht Überlebensnachteile eindeutig belegen könne. Klar sei aber: "Ein Tumor wächst exponentiell." Jede Wartezeit auf die Strahlentherapie bedeute für den Tumor "mehr Zeit, um zu wachsen, Resistenzen zu entwickeln und Metastasen zu bilden. Keine Wartezeit muss das Ziel sein."

Zu wenig Linearbeschleuniger

Die Experten weisen in ihrem Report auch auf den zukünftig erhöhten Bedarf hin: "Unter den getroffenen Annahmen (jährlich 400 Patienten pro Linearbeschleuniger, Ein-Schichtbetrieb und Therapiebedarf bei 62,5 Prozent der Patienten inklusive Wiederbehandlungen; Anm.) wären für 2020/2025 rund 65 Linearbeschleuniger für Österreich erforderlich. Dies würde eine deutliche Kapazitätserweiterung gegenüber dem Ist-Zustand bedeuten". Derzeit sei in Ostösterreich eine Erhöhung der Zahl der Strahlentherapiegeräte um drei geplant, im Süden Österreichs um zwei. Laut allen Berechnungen des GÖG reicht das aber wahrscheinlich nicht aus.

Das GÖG führt allerdings auch an, dass derzeit schon in Österreich nicht ein Ein-Schicht-Betrieb mit acht Stunden pro Tag in den Strahlentherapie-Anlagen gegeben ist, sondern einer von 1,125 Schichten. Das würde bei Beibehaltung einen Bedarf von 57,3 Linearbeschleunigern für 2020/2025 ergeben, bei Erhöhung auf einen 1,25-Schichtbetrieb wären es errechnete 51,6 Geräte.

Hawliczek äußerte dazu erhebliche Zweifel. Grundsätzlich sollte man von einem Ein-Schicht-Betrieb ausgehen: "Alles darüber hinaus sollte als Reserve angesehen werden." Und schließlich müssten die Strahlentherapiezentren in Österreich auch für den technischen Ausfall von Geräten ausreichende Ersatzkapazitäten haben. Derzeit sind laut den GÖG-Experten nur acht neue Geräte geplant. Mittelfristig gebe es also in Österreich bestenfalls Chancen auf 51 Geräte – statt dem errechneten Bedarf zwischen 51,6 und 65.

Mangelfach Radioonkologie

Dem Radioonkologen zufolge zeigt sich aber durch neue und immer aufwendiger werdende Techniken, dass die Zahl der jährlich pro Linearbeschleuniger behandelbaren Patienten sinkt. Man benötige heute mehr Zeit für die spezielle Lagerung der Patienten und auch mehr Zeit für die Simulation von Therapien, um sie noch exakter ausführen zu können. Laut GÖG waren es 2014 im Mittel 464 Patienten pro Gerät und Jahr, es sollten aber wahrscheinlich nur rund 400 sein. Selbst diese Zahl ist für Hawliczek zu hoch gegriffen. Er geht von optimal wohl nur 350 Patienten pro Jahr und Gerät aus.

Die Crux an der österreichischen Strahlentherapie-Misere liegt in der Komplexität des Themas. Die Installation neuer Geräte ist aufwendig. Hinzu kommt aber auch, dass das für den Betrieb notwendige Personal an Fachärzten, Physikern und Beschäftigten für die Bedienung ausgebildet werden muss. Fachleute sprachen in der Vergangenheit von mehrjährigen Vorlaufzeiten.

Laut den GÖG-Experten ist auf jeden Fall mehr Personal notwendig: Einerseits durch die Aufstockung der Zahl der Geräte, andererseits auch, wenn eventuell die Schicht-Betriebszeiten verlängert werden. Und schließlich zeigt sich auch bei den Strahlentherapiefachleuten jenes Bild, das den gesamten österreichischen Ärztestand trifft: zunehmende Überalterung. Es falle auf, "dass fast 25 Prozent der Ärztinnen und Ärzte zwischen 50 und 54 Jahren, 20 Prozent zwischen 55 und 59 Jahren und das berechnete Durchschnittsalter 50 Jahre beträgt", stellten die GÖG-Fachleute fest. "Wir sind dabei, ein Mangelfach zu werden", warnt Robert Hawliczek.

Schlechte Erfahrungen

Bei der Sitzung der Bundesgesundheitskommission mit praktisch allen Verantwortlichen Anfang Dezember, wurde der offizielle Bericht ohne Einwände zur Kenntnis genommen und für die Umsetzung beschlossen. "Das ist ein positiver Ansatz. Er ist aber nach wie vor nur ein Papier", so Patientenanwalt Bachinger.

Hawliczek ist ebenfalls vorsichtig. Er spricht von schlechten Erfahrungen mit der Gesundheitspolitik in der Vergangenheit – auch am Beispiel Wien. So sei der zusätzliche Bedarf an Strahlentherapie, der jetzt von den GÖG-Experten eindeutig belegt worden sei, bereits vor Jahren in etwa gleich im Österreichischen Strukturplan Gesundheit (ÖSG) aufgeschienen. Geändert habe sich nichts. Im Wiener Regionalstrukturplan (RSG) habe die Politik die sprichwörtlichen Karten gezinkt und weniger Bedarf vermerkt. Das damalige Kontrollamt der Stadt Wien hätte die Defizite schon 1999 angeführt, passiert sei aber nichts. (APA, 22.12.2015)