Er habe mit Kanzler Werner Faymann viel gestritten und dennoch viel Gemeinsames erreicht, resümiert ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner.

Cremer

"Ich finde, wir haben trotz unterschiedlicher ideologischer Zugänge doch einige Themen weitergebracht. Vielleicht haben wir es nicht optimal verkauft."

Cremer

"Es gibt durchaus ideologische Unterschiede – das sind zwei unterschiedliche Parteien, in manchen Ansichten sogar konträre."

Cremer

Zum Umgang der Bevölkerung mit dem Flüchtlingsthema sagt Mitterlehner: "Wir müssen aus Betroffenen Beteiligte machen. Das ist die Erfahrung des Jahres 2015."

Cremer

"In Deutschland hat Angela Merkel die Strategie geändert. Auch wir müssen den Kurs verschärfen."

Cremer

"Wenn wir diesen Strom der Flüchtlinge nicht unter Kontrolle bekommen, werden wir scheitern."

Cremer

"Wenn wir in nationalen Alleingängen die Lösung suchen, werden wir Europa zerstören."

Cremer

"Das Aufbegehren ist überzogen, finde ich. Meine Aufgabe ist nicht, das Populäre zu tun, sondern das Richtige."

Cremer

"Ich kann nur subjektiv sagen, dass 2015 ein schwieriges Jahr war. Die Themenlage war extrem komplex."

Cremer

STANDARD: Ist Ihnen im heurigen Jahr jemals der Satz "Es reicht" in den Sinn gekommen?

Mitterlehner: In Richtung Umsetzung, was die Regierungsarbeit betrifft, nicht. Ich bin der Meinung, es reicht noch nicht. Was die Probleme betrifft, die aufgetaucht sind, ist die Wendung "Es reicht" schon öfter gefallen.

STANDARD: Wilhelm Molterer hat mit diesen Worten die Koalition beendet. Haben Sie daran gedacht?

Mitterlehner: Das hat damals schon nicht funktioniert. Die Bevölkerung honoriert es nicht, wenn das Handtuch geworfen wird, da muss schon ein gewichtigerer Grund da sein. Die Regierung muss ihre Aufgaben erledigen. Ich finde, wir haben trotz unterschiedlicher ideologischer Zugänge doch einige Themen weitergebracht. Vielleicht haben wir es nicht optimal verkauft.

STANDARD: Für die öffentlich ausgetragenen Konflikte musste die Koalition heuer viel Kritik einstecken.

Mitterlehner: Das ist das journalistische Leben. Jeder stellt beim Pressefoyer eine Frage, um einen Konflikt aufzudecken oder zu schüren. In dem Augenblick, wo er tatsächlich auftritt, beklagt man die Uneinigkeit und die Streiterei in der Regierung. Es gibt durchaus ideologische Unterschiede – das sind zwei unterschiedliche Parteien, in manchen Ansichten sogar konträre. Ich finde, der Bundeskanzler und ich tragen das aber sehr zivilisiert und sachlich aus. Wir haben auch viele Gemeinsamkeiten gefunden. Bei der Bildung, beim Thema Steuern, auch beim Arbeitsmarkt gab es sehr konkrete Fortschritte.

STANDARD: Das beherrschende Thema waren letztlich die Flüchtlinge. Ist es der Politik gelungen, die Bevölkerung da mitzunehmen?

Mitterlehner: Ja und nein. Bis August haben wir eine positive Stimmung gehabt, haben uns auf die Tradition des Helfens berufen. Der Tenor war: Diese Herausforderung können wir bewältigen. Dann ist der September passiert. Entscheidend waren die Bilder. Die Bilder haben selbst denen, die überhaupt noch nie einen Flüchtling persönlich angetroffen haben, den Eindruck vermittelt, unsere Grenzen wären nicht mehr souverän. Da wurde eine Ohnmacht der Regierenden transportiert. Die Menschen hatten Angst vor der Zukunft. Die Angst vor Verlust und vor Sicherheitsproblemen war der entscheidende Faktor. Da ist es uns nicht gelungen, die Bevölkerung ausreichend einzubinden. Aber das zeigt ein Grundproblem auf: Die Bevölkerung erwartet, dass wir sie von den Problemen freihalten. In Wirklichkeit hat sich die Politik gewandelt. Man muss mit den Betroffenen gemeinsam das Thema angehen und das Problem lösen. Wir müssen aus Betroffenen Beteiligte machen. Das ist die Erfahrung des Jahres 2015. An dem arbeiten wir.

STANDARD: Unterstützen Sie die außenpolitischen Initiativen, die der Bundeskanzler derzeit setzt?

Mitterlehner: Da sind wir wieder auf dünnem Eis. Wenn ich ihn jetzt kritisiere, schreiben Sie von Streit in der Koalition. Aber man muss auch die Entwicklung, die Stimmung in der Bevölkerung sehen. In Deutschland hat Angela Merkel die Strategie geändert. Auch wir müssen den Kurs verschärfen. Wenn wir diesen Strom der Flüchtlinge nicht unter Kontrolle bekommen, werden wir scheitern. Wenn der Bundeskanzler so interpretiert wird, dass noch zusätzlich 50.000 Flüchtlinge aus der Türkei verteilt werden sollen, wirkt das kontraproduktiv. Diese hastige Vorgangsweise empfinde ich als übertrieben, die umgekehrte Vorgangsweise ist notwendig. Zuerst mithilfe der Türkei den Flüchtlingsstrom eindämmen, erst danach kann man über andere Punkte reden. Wir müssen Politik wieder nachvollziehbar machen, sonst haben wir alle, die gesamte Bundesregierung, die gesamte Gesellschaft, ein weiteres Problem.

STANDARD: Haben Sie noch Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der EU?

Mitterlehner: Wenn wir in nationalen Alleingängen die Lösung suchen, werden wir Europa zerstören. Wir müssen rasch gemeinsame Lösungen umsetzen, Europa muss gemeinsam agieren. Jetzt müssen wir den Schutz der Außengrenzen angehen. Was schon stimmt: Mit Griechenland hat man sich in der Finanzkrise intensiver um eine Lösung bemüht. Das Flüchtlingsthema ist nur in Schweden, Deutschland und Österreich als Problem angekommen, noch nicht auf der Gesamtebene. Das wird jetzt gerade revidiert.

STANDARD: Was können wir hier vor Ort machen? Sind Obergrenzen in der Flüchtlingsaufnahme Ihrer Meinung nach zulässig? Ab wann sagt man: "Du jetzt nicht mehr"?

Mitterlehner: Obergrenzen sehe ich schon als Thema, auch wenn sich Schutz per se nicht zahlenmäßig definieren lässt. Aber es ist ein faktisches, kapazitätsorientiertes Thema. Das habe ich dann, wenn ich Zelte aufstellen muss. Dann haben wir offenbar nicht genügend Räumlichkeiten zur Verfügung, um die Flüchtlinge auch unterbringen zu können.

STANDARD: Das hängt wohl von den Bemühungen und dem Wollen ab.

Mitterlehner: Wir müssen versuchen, bei den Quartieren alle Möglichkeiten auszuschöpfen – das tun wir. Aber wenn wir auf Sportplätzen Notquartiere einrichten, wird das nicht die Dauerlösung sein können. Wir müssen uns entlang dieser Grenze des Möglichen bewegen. Ein Teil der Flüchtlinge wird zurückgehen, ein Teil wird da bleiben. Aus dem wird sich ergeben, wie viele man neu aufnehmen kann. Aber über die Anzahl an Quartieren, die jetzt zur Verfügung stehen, wird es sicher nicht hinausgehen. Die Idee, dass wir jedes Jahr noch einmal dieselbe Zahl an Flüchtlingen aufnehmen, würde in der Bevölkerung auf Widerstand stoßen. Der Verfassungsrechtler Funk definiert zu Recht, dass dort eine Grenze ist, wo jemand seine Leistungen nicht mehr erbringen kann, weil ihm die Voraussetzungen fehlen.

STANDARD: Und dort könnten wir im nächsten Jahr ankommen, oder sind wir bereits dort?

Mitterlehner: Meiner Meinung nach sind wir genau bei diesen Kapazitätsengpässen angelangt, da ist noch einiges erreichbar, aber sicher keine Verdoppelung.

STANDARD: Also nicht noch einmal so ein Jahr wie heuer?

Mitterlehner: Nein, meiner Meinung nach nicht.

STANDARD: Sie haben heuer durch diverse Maßnahmen die Wirtschaftsleute in Ihrer Partei schwer verärgert. Grunderwerbsteuer, Registrierkassenpflicht, Umsatzsteuer für Tourismus etc. Wie wollen Sie den Wirtschaftsflügel wieder befrieden?

Mitterlehner: Man muss das Gesamte sehen, und das ist die Steuerreform. Die wurde auch im Interesse der Wirtschaft durchgeführt, das wird die Konjunktur beleben. Klar war aber, wenn die Wirtschaft keine Vermögens-, keine Erbschafts- und keine Schenkungssteuer vertragen kann, dann müssen wir zur Gegenfinanzierung andere Maßnahmen setzen. Das haben wir gemacht, sehr moderat. Vielleicht war die Erwartungshaltung überzogen. Viele waren der Meinung, wenn der Parteiobmann, der Finanzminister und der Staatssekretär aus dem Wirtschaftsbund kommen, dann kriegen wir noch mehr an Benefits. Ich bin aber nicht da, um Klientelpolitik zu machen, sondern um dem Standort Österreich in einer wirtschaftlich schwierigen Situation konjunkturell weiterzuhelfen und unsere Wettbewerbsvoraussetzungen auf internationalen Standard zu bringen. Zum Reizthema Registrierkassen kann ich nur sagen, die sind international üblich.

STANDARD: Dennoch ist die Verärgerung offenbar nachhaltig.

Mitterlehner: Das Aufbegehren ist überzogen, finde ich. Meine Aufgabe ist nicht, nur das Populäre zu tun, sondern das Richtige. Ich hoffe, dass wir das auch noch populär machen können. Das ist eine richtige Maßnahme, die auch den Unternehmen nutzen wird.

STANDARD: Fühlen Sie sich in der öffentlichen Wahrnehmung gerecht behandelt?

Mitterlehner: Ich kann nur subjektiv sagen, dass 2015 ein schwieriges Jahr war. Die Themenlage war extrem komplex, das Flüchtlingsthema können wir allein nicht lösen. Bei der Steuerreform haben manche den falschen Eindruck erweckt, es gebe ein Belastungspaket von 5,2 Milliarden Euro. Der Wahrheitsbeweis wird durch den Faktencheck erbracht werden: Hilft uns die Steuerreform, die Konjunktur zu beleben, oder nicht. Ich bin optimistisch, die Stimmung wird sich drehen.

STANDARD: Die Universitätenkonferenz hat mit Sonja Hammerschmid eine neue Vorsitzende. Sie wünscht sich eine kapazitätsorientierte Studienplatzfinanzierung, dass also jede Universität gemäß der Anzahl ihrer Studierenden finanziert wird. Die Regierung verschiebt das regelmäßig, wird es das noch geben?

Mitterlehner: Das steht auf der Tagesordnung. Aber ich muss sagen, dass mir die Gewichtungen in der Diskussion nicht gefallen. Wir haben an den Universitäten kein Sparpaket realisiert. Alle 22 Unis haben die Leistungsvereinbarung für die nächsten drei Jahre unterschrieben. Wir haben eine Steigerung von 6,8 Prozent im Budget. Das ist deutlich mehr, als alle anderen bekommen haben. Das ist auch unter dem Eindruck der Flüchtlinge und der Gegenfinanzierung der Steuerreform zu sehen. Die Studienplatzfinanzierung würde weitere 500 Millionen Euro kosten.

STANDARD: Aber diese Umstellung in Richtung kapazitätsorientierte Finanzierung wird kommen?

Mitterlehner: Ja. Wir wollen 2019 mit dieser Umstellung beginnen, wenn es budgetär machbar ist.

STANDARD: Wird es Zugangsbeschränkungen an allen Unis geben?

Mitterlehner: Wir haben Zugangsbeschränkungen bereits realisiert, die werden bis 2021 verlängert, dann werden wir evaluieren können, ob soziale Ungerechtigkeiten entstehen. Im Endeffekt hat sich diese Regelung wie auch die Studieneingangs- und Orientierungsphase bewährt. Die Befürchtung ist nicht eingetreten, dass die Studenten hinausgeprüft werden. Der Verbleib im Studium ist länger, die Prüfungsabschlüsse sind besser. Ich fühle mich da auch dem Steuerzahler verpflichtet. Wir müssen mit den Ressourcen effizient umgehen. Ich kann nicht Beliebigkeit dadurch herstellen, indem ich sage, für jeden alles, weil ich die Mittel dafür auch gar nicht habe. (Michael Völker, 19.12.2015)