Stefan Gottfried und Nikolaus Harnoncourt während der Proben zu Mozarts "Da Ponte"-Trilogie 2014 zu Hause bei Harnoncourt in St. Georgen im Attergau.

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Stefan Gottfried gilt als Nachfolger Harnoncourts.

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STANDARD: Nachdem Nikolaus Harnoncourt bekanntgegeben hatte, dass er sich ganz vom Dirigentenpult zurückzieht, wurden Sie innerhalb weniger Tage als Leiter mehrerer Projekte genannt und als sein "Meisterschüler" geführt. Handelt es sich da um ein klassisches Lehrer-Schüler-Verhältnis?

Gottfried: Sicherlich nicht. Schon in seinem legendären Unterricht am Salzburger Mozarteum war Nikolaus Harnoncourt kein Lehrer im gewöhnlichen Sinn, sondern hat dort ein Forum eröffnet, bei dem jeder Interessierte herzlich willkommen war, wo gemeinsam geforscht, musiziert und nachgedacht wurde. Dieser Geist prägt auch den Concentus Musicus, bei dem ich über zehn Jahre lang am Continuo, mit Cembalo, Orgel und Hammerklavier mitspielen, aber auch als musikalischer Assistent mitarbeiten durfte. Ich bin unendlich dankbar, dass ich so bei ganz spannenden Produktionen im Theater an der Wien, bei den Salzburger Festspielen und bei der Styriarte in die gesamte Vorbereitungsarbeit hineinwachsen durfte. Das hat mich geprägt – und auch zum selbstständigen Dirigieren hingeführt.

STANDARD: Wie hat sich der Schritt ergeben, dass Sie nun bei der "Leonore" und anderen Projekten die Leitung übernehmen?

Gottfried: Wir waren alle ungeheuer traurig und tief bewegt, als uns die Nachricht von Harnoncourts Rücktritt ereilt hat. Damit geht die Ära eines der einflussreichsten Dirigenten zu Ende – zumindest was das Podium betrifft. Zugleich mit der Bekanntgabe seines Rücktritts hat er mich gebeten, gemeinsam mit zwei Kollegen, Konzertmeister Erich Höbarth und Geigerin Andrea Bischof, in seinem Sinne das Ensemble weiterzudenken.

STANDARD: Was heißt das genau – doch nicht, ihn zu kopieren?

Gottfried: Das könnten wir gar nicht, und das wäre auch nicht in seinem Sinne. Für Harnoncourt war und ist immer entscheidend, dass aus der umfassenden Beschäftigung mit den Quellen heraus die Musik nur durch die eigene Person, durch die ganz persönliche Identifikation mit ihr lebendig werden kann. Nur so kann die Asche der Vergangenheit wieder zum Glühen gebracht werden. Genauso ernst genommen hat er die künstlerische Dynamik, die sich mit den jeweiligen Sängern und Instrumentalisten ergibt und die immer einiges noch verändert und konkretisiert hat. Deswegen war und blieb es immer bis zum letzten Ton eines Konzertes spannend. Wir versuchen, es in seinem Sinne zu machen, indem wir es zu unserer Sache machen. Natürlich ist unsere musikalische Sprache ganz wesentlich geprägt durch Harnoncourts Art und Weise, mit historischer Musik umzugehen – seiner Fähigkeit, sozusagen "zwischen den Notenzeilen" zu lesen. Aber es ist auch das künstlerische Selbstverständnis des Concentus, aus der Verbindung von möglichst viel Wissen und künstlerischer Leidenschaft Musik zu machen. Das ist uns in Fleisch und Blut übergegangen!

STANDARD: Harnoncourt und der Concentus haben einerseits eine Symbiose entwickelt, die nun erst überwunden werden muss. Andererseits war der Probenprozess immer so, dass sich die Musiker individuell entfalten und einbringen konnten. Macht das die Aufgabe, Zukunftsperspektiven zu entwickeln, vielleicht sogar ein wenig leichter?

Gottfried: Ein wichtiger Aspekt dieser Probenarbeit war, dass Harnoncourt nie dem Ensemble ein fertiges Konzept übergestülpt hat, sondern durch seine Ideen und Impulse die individuelle Gestaltungskraft jedes Einzelnen – die "Fantasie", wie er es gern genannt hat – eingefordert hat. Es ist nie darum gegangen, nur die Abläufe zu organisieren, sondern immer auch um Fragen nach dem Sinn, nach der Bedeutung und darum, alle als einzelne Künstlerpersönlichkeiten einzubringen. Das ist sicherlich eine wichtige Basis, um selbstständig weiterarbeiten zu können.

STANDARD: Von Harnoncourt stammt die Idee, die zweite Fassung von Beethovens "Leonore" zu spielen. Was zeichnet diese Version aus?

Gottfried: Beethoven hat nach der Uraufführung der Leonore (erst ab der dritten Version aus dem Jahr 1814 hieß die Oper "Fidelio", Anm.) im November 1805 gleich vier Monate später unglaublich viel umgestellt und weitergefeilt. Nikolaus Harnoncourt wollte unbedingt diese erste Umarbeitung von 1806 machen. Man merkt, wie Beethoven darum ringt, den Rhythmus und den Gestus der Sprache optimal in Musik zu übersetzen. Daran sieht man, wie wichtig ihm der rhetorische Aspekt war, der auch für die Interpretation seiner Instrumentalmusik entscheidend ist. Und man kann aus nächster Nähe mitverfolgen, wie intensiv er daran gearbeitet hat. Man spürt Beethovens künstlerische Skepsis – ein ständiger Wechsel von Suchen, Finden und Verwerfen. (Daniel Ender, 16.12.2015)