Inhalte des ballesterer Nr. 108 (Jänner/Februar 2016) – Seit 10. Dezember im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk

SCHWERPUNKT: IVICA OSIM

DER WEISE AUS SARAJEVO
Die zwei Leben des Ivica Osim

LEGIONÄR IN FRANKREICH
Osim als Spieler

"ER WAR DER BESTE TRAINER"
Tormann Ivkovic im Interview

Außerdem im neuen ballesterer

AUSTRIAS GALIONSFIGUR
Alexander Gorgon im Porträt

FLUCH ODER SEGEN
Rückblick auf das Bosman-Urteil

LINZER AUFSCHWUNG
Herbstmeister Blau-Weiß

GIESING IM GLÜCK
Amateurderby in München

STÜRMERSOUL
Die Sänger von "5/8erl in Ehr’n"

TOUR DE FRANCE: MARSEILLE

DIE FESTUNG DER FREIHEIT
Ein Anstoß zu den Nachwirkungen von Paris

"ICH KANN BECKHAM ALLES VERZEIHEN"
Autor Philip Kerr im Interview

DER 13. MANN
nimmt Abschied

GRENZENLOS
Fußball für minderjährige Flüchtlinge

NACHRUF AUF EINE INSTITUTION
Das Wiener Stadthallenturnier

GROUNDHOPPING in Deutschland, England und Slowenien

Cover: Ballesterer

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Mehmed Bazdarevic über Osim: "Er ist ein großartiger Mensch. Wir haben immer viel geredet – und tun das auch heute noch. Ich kann mich an einige Gelegenheiten erinnern, als wir uns um 12.00 Uhr zum Mittagessen getroffen haben und dann bis um 6.00 in der Früh über Fußball und das Leben gesprochen haben."

Foto: REUTERS/Denis Balibouse

Hätte der ballesterer den Tag für das Interview mit Mehmed Bazdarevic aussuchen können, es wäre wohl nicht dieser Freitag geworden. Eine Woche zuvor hatte der Teamchef von Bosnien und Herzegowina noch allen Grund zur Zufriedenheit. Im Dezember 2014 hatte er die Mannschaft in aussichtsloser Position übernommen, wenige Monate später stand sie im Play-off um die EM-Qualifikation. Vor den Spielen gegen Irland schien Bosnien das Momentum auf seiner Seite zu haben und die qualitativ bessere Mannschaft am Platz. Doch die Iren gewannen das Duell, und Bosnien spielte einen miserablen Fußball. "Das ist nicht das Ende der Welt", sagte Ivica Osim der Tageszeitung Dnevni Avaz. "Aber es ist ein Schlag ins Gesicht. Ich hoffe, wir lernen daraus, nie arrogant aufzutreten. Noch nie hat jemand ein Spiel gewonnen, bevor es angepfiffen worden ist."

Teamchef Bazdarevic gilt als geselliger Typ, er lächelt breit und freundlich und macht gerne Witze. Aber heute schwingen Traurigkeit und Enttäuschung in seiner Stimme mit. "Keiner hat das so sehr gewollt wie ich", sagt er. "Es hätte der größte Moment in meiner Karriere werden können – mein Heimatland zu seiner ersten Europameisterschaft führen. Vermutlich hat Osim recht – einige Leute hatten unrealistische Erwartungen. Manche sagen noch immer, dass Irland eine schlechte Mannschaft hat. Wir haben dem Druck nicht standgehalten."

Hai in Sarajevo

Mehmed Bazdarevic wurde am 28. September 1960 in der Kleinstadt Visegrad im Osten Bosniens geboren. Einige Jahre später übersiedelte seine Familie nach Sarajevo, er begann seine Fußballkarriere bei Zeljeznicar und wurde 1978 in die Kampfmannschaft befördert. In diesem Jahr kehrte Ivica Osim nach Sarajevo zurück – als Trainer von Zeljeznicar. "Ich kann mich noch genau erinnern", sagt Bazdarevic. "Er parkte seinen nagelneuen blauen Citroen DS – so ein Auto hatten damals nicht viele, wir nannten es aufgrund seines Aussehens den Hai. Osim hat einen eleganten blauen Anzug getragen und war eine beeindruckende Erscheinung. Er hat mir gesagt, er wolle eine gute Mannschaft aufbauen, und ich solle ein wichtiger Teil davon sein."

Osim blieb die nächsten sechs Jahre, Bazdarevic wurde zum Star der Mannschaft. 1979 führte der Spielmacher die jugoslawische U21 als Kapitän zum Europameistertitel. Zeljeznicar wurde zu einer der besten Mannschaften Jugoslawiens, gewann aber keine Trophäen. 1981 verlor der Klub das Finale im nach Staatspräsident Tito benannten Cup gegen Velez Mostar. Drei Jahre später fehlten nur wenige Minuten bis zur Finalteilnahme im UEFA-Cup: In der 87. Minute des Rückspiels kassierte Zeljeznicar gegen Videoton jedoch das entscheidende Tor. "Es hätte ein historischer Moment werden können – nicht nur für den Klub, sondern für den bosnischen und jugoslawischen Fußball", sagt Bazdarevic. "Als wir das Tor bekommen haben, hat sich das angefühlt, als hätte uns gerade ein Zug gerammt. Wir waren sicher, dass wir es schaffen würden."

ballesterer: Waren Sie damals schon mit Osim befreundet?

Mehmed Bazdarevic: So wie ein Spieler Freund seines Trainers und Chefs sein kann. Er hat viel mit mir geredet, über alles diskutiert. Ich war sein verlängerter Arm auf dem Spielfeld, ich habe seine Ideen in die Praxis umgesetzt.

ballesterer: Was waren damals die Ideen von Osim? War er anders als später in seiner Karriere?

Bazdarevic: Sind wir das nicht alle? Natürlich ist er im Lauf seiner Karriere besser geworden. Aber auch damals war er schon einer der besten Trainer seiner Zeit. Und es waren ganz andere Zeiten. Die Leute haben im Fußball gearbeitet, weil sie diesen Sport geliebt haben. Osim war Geld immer gleichgültig, er war engagiert, egal, was er verdient hat. Er war leidenschaftlich und emotional – und er hat sich dem Spiel komplett verschrieben.

ballesterer: Was war sein Lieblingssystem?

Bazdarevic: Spielsysteme haben damals nicht den Stellenwert von heute gehabt. Osim wollte immer, dass seine Mannschaft den besten Fußball spielt. Aber er war nie ein Sklave einer Formation, ob jetzt 4-4-2, 5-4-1 oder was auch immer. Er wollte, dass sich seine Mannschaft an die Situation anpasst, dass sie schnell spielt, sich viel bewegt. Und er wollte Spieler, die genau das können. Fußball ist ein kollektives Spiel – das hat er immer betont. Wenn einer der elf nicht gut genug arbeitet, sind alle davon betroffen. Man könnte seine Systeme nicht in Ziffernfolgen ausdrücken, wie wir es heute tun. Er war seiner Zeit immer weit voraus.

Als Jugoslawien an der Qualifikation für die WM 1986 scheiterte, legte der Verband die Geschicke des Nationalteams in die Hände Osims. Der Trainer einer Provinzmannschaft ohne Titel war nicht die erste Wahl der Belgrader Medien. Ihm wurde vorgeworfen, zu viele Spieler aus Sarajevo einzusetzen – wie Bazdarevic, der auch im Nationalteam bald eine Schlüsselrolle einnehmen sollte. Als Jugoslawien bei der EM-Qualifikation England unterlag, geriet Osim unter enormen Druck.

ballesterer: Wie ist er mit der Kritik umgegangen?

Bazdarevic: Es ist ihm sehr schlecht gegangen, aber er hat versucht, das zu verstecken. Er hat so weitergearbeitet, wie er es für richtig gehalten hat. Das war einer seiner Schutzmechanismen: Egal, was Kritiker gesagt haben, hat er einfach immer härter gearbeitet. Dann haben wir uns für die WM qualifiziert und in Italien sehr gut gespielt.

ballesterer: Sie haben aber nicht gespielt, weil Sie den Schiedsrichter beim Qualifikationsmatch gegen Norwegen angespuckt haben. Wie hat Osim reagiert?

Bazdarevic: Am Anfang war er natürlich sehr sauer. Mit der Zeit hat sich das gelegt, ich habe beweisen können, dass ich den Schiedsrichter nie anspucken wollte, sondern der den Vorfall maßlos aufgebauscht hat. Ich war aber auch enttäuscht, weil sich der Verband nicht stärker für mich eingesetzt hat. Vor der WM hatten wir Probleme im Mittelfeld: Zvonimir Boban ist nach seiner Attacke an dem Polizisten suspendiert worden, und Dragan Stojkovic war angeschlagen – Osim muss also verstanden haben, dass es Interessen gegeben hat, mich aus dem WM-Kader fernzuhalten.

ballesterer: Wessen Interesse?

Bazdarevic: Ich kann das nicht so genau sagen, aber dieses Team hat eine ungeheure Kraft gehabt. Uns war bewusst, dass wir Großes erreichen konnten. Osim hat später einmal gesagt, dass wir Welt- oder Europameister werden hätten können – das hätte viel verändert. Nicht nur im Fußball, auch in der Politik.

ballesterer: Was meinen Sie damit?

Bazdarevic: Im Rückblick darüber zu reden, ist schwierig. Ich will nicht behaupten, dass Jugoslawien nicht auseinandergefallen oder es nicht zum Krieg gekommen wäre, wenn wir einen Titel gewonnen hätten, aber wir waren davon überzeugt, dass wir zumindest kleine Dinge verbessern hätten können. Wir haben gesehen, was gerade passiert, aber wir haben uns auf den Fußball konzentriert.

ballesterer: Noch bevor Jugoslawien von der EM ausgeschlossen worden ist, ist Osim im Mai 1992 bei einer Pressekonferenz in Belgrad mit Tränen in den Augen zurückgetreten, ein Monat nachdem die ersten Bomben auf Sarajevo abgeworfen worden sind. Wie haben Sie das erlebt?

Bazdarevic: Ich habe gewusst, dass er das machen würde. Er hat bis Mai gewartet, weil wir alle gehofft hatten, dass dieser Wahnsinn bald aufhören würde. Dass wir nach Schweden zur EM fahren und das Land stolz machen würden. Das war alles, was wir wollten. Aber das ist nicht geschehen. Ich war sehr stolz auf ihn. Unsere Heimatstadt ist bombardiert worden, und er hat gesagt, dass es aufhören muss. Wir haben gedacht, dass wir als Fußballer mehr Gewicht hätten. Dass wir eine höhere Medienaufmerksamkeit bekommen würden und Dinge ändern könnten. Aber das konnten wir nicht.

ballesterer: Sie sind jetzt selbst Trainer, wie viel haben Sie von Osim gelernt? Bitten Sie ihn immer noch um Rat?

Bazdarevic: Wir stehen einander sehr nahe, daher frage ich ihn auch oft um seine Meinung. Ich habe sicher viel von ihm gelernt, vor allem im Zugang zu dieser Arbeit. Diese Liebe zum Fußball. Er hat die Arbeit immer sehr leidenschaftlich aufgefasst und jedes Spiel genossen.

ballesterer: Es heißt, dass er sehr nahe an der Mannschaft dran war, mit ihr Karten gespielt hat.

Bazdarevic: Wir haben damals keine Handys und Videospiele gehabt, also haben wir oft Karten gespielt. Er war sehr gut in Rommé. Manchmal ist er mit uns am Tisch gesessen und hat mitgespielt, manchmal hat er zugeschaut und jemandem geholfen. Er war ein großartiger Mathematiker, also sehr gut bei Kartenspielen. Er hat auch gerne gesungen. Wir haben gewusst, welches Volkslied er am liebsten mag, und ihn immer gebeten mitzusingen, wenn es gelaufen ist. Er ist nie der typische Lebemann vom Balkan gewesen, aber er liebt gutes Essen, trinkt gerne ein Gläschen oder zwei und versucht, Spaß zu haben.

ballesterer: Es heißt, dass Osim und das Betreuerteam nach der 1:4-Niederlage gegen Deutschland bei der WM 1990 elf Flaschen Whisky getrunken hätten. Ist das nur ein Gerücht?

Bazdarevic: Das hätte er vielleicht geschafft, wenn er ein Elefant wäre. Wer kann elf Flaschen Whisky trinken und am nächsten Tag eine Trainingseinheit leiten? Obwohl ich nicht spielen durfte, war ich in Italien dabei – diese Geschichte ist eine Ente.

ballesterer: Wie stark hat sich Osim nach dem Schlaganfall verändert?

Bazdarevic: Als Person gar nicht. Er ist immer noch derselbe "Svabo". Aber seine starke körperliche Erscheinung fehlt mir, er hat jeden Raum mit seiner dominanten Präsenz gefüllt.

ballesterer: Osim gehört noch immer zu den beliebtesten Fußballpersönlichkeiten im ehemaligen Jugoslawien. Er wirkt auf viele sehr distanziert und nicht unbedingt freundlich, dennoch mögen ihn die Leute. Warum?

Bazdarevic: Osim umgibt diese mystische Aura, das hat sich über Jahre aufgebaut. Er sieht Dinge nicht schwarz und weiß, er hat immer eine andere Perspektive. Wenn er das erklärt, wirkt das auf manche vielleicht besonders philosophisch, dabei ist er einfach nur so ehrlich wie möglich und sagt, was er denkt. Man darf auch nicht vergessen, dass er ein großartiger Spieler war und als Trainer viel erreicht hat. Wahrscheinlich macht ihn die Mischung aus all dem zu dieser sehr weisen Persönlichkeit.

ballesterer: Osim hat dem bosnischen Fußball als Vorsitzender des Normalisierungskomitees geholfen, als der Verband 2011 von FIFA und UEFA suspendiert war. Wie groß ist sein Einfluss heute?

Bazdarevic: Riesig. Er wird von allen respektiert, und ich würde mir wünschen, dass er sich noch stärker einbringt. Ich fürchte, dass ihm sein Gesundheitszustand das nicht erlaubt, aber ich bin überzeugt, dass wir eine bessere Organisation, eine bessere Liga und einen besseren Fußball hätten, wenn er in Entscheidungsprozesse eingebunden wäre.

ballesterer: Wie ist Osim als Freund?

Bazdarevic: Er ist ein großartiger Mensch. Wir haben immer viel geredet – und tun das auch heute noch. Ich kann mich an einige Gelegenheiten erinnern, als wir uns um 12.00 Uhr zum Mittagessen getroffen haben und dann bis um 6.00 in der Früh über Fußball und das Leben gesprochen haben.

ballesterer: Was sind seine Schwächen?

Bazdarevic: Seine Gefühle. Er war immer zu emotional, nie dreist genug. Er hat sich die Dinge zu stark zu Herzen genommen – Kritik wie Lob. Er hat nie den nötigen Abstand halten können, dafür liebt er das Spiel einfach zu sehr.

ballesterer: Glauben Sie, dass er heute noch immer ein guter Trainer wäre?

Bazdarevic: Nein, aber nicht seinetwegen, sondern wegen der anderen. Er ist nie mit der Kommerzialisierung des Fußballs warm geworden. Alle diese Manager und Agenten, die ständig um Spieler und Trainer herumschwirren. Er wäre von der heutigen Spielergeneration enttäuscht, die mit ihren Kopfhörern im Mannschaftsbus sitzt und auf dem Smartphone spielt – also Individualisten, denen ihre Marke wichtiger ist als das Team. (Interview: Sasa Ibrulj, Übersetzung: Jakob Rosenberg)