Irgendwann muss man von toten Gäulen absteigen. Die Europäische Union in ihrer derzeitigen Struktur wird in absehbarer Zeit vermutlich ein toter Gaul sein. Sie hinkt, lahmt und hustet bereits auf Schritt und Tritt. In der noch verbleibenden Zeit sollte ihre Nachfolgestruktur entworfen und detailliert geplant werden. Der Diskussionsprozess, so utopisch und visionär dieser auch im Moment erscheinen mag, muss jetzt beginnen. Andernfalls wartet auf Europa am Ende nur noch der Schlachthof der globalisierten Wirtschaft.

Strategische Planungen beginnen zumeist mit einer Analyse des Status quo. Was war die Europäische Union doch für ein grandioses Konzept. Als ihre heutige Struktur in den 1980er-Jahren als Möglichkeit diskutiert wurde, erschien diese wie ein bevorstehender "herrlicher Sonnenaufgang" (Georg Wilhelm Friedrich Hegel). Größere politische Einheiten, schlagkräftigere wirtschaftliche Gefüge bei gleichzeitigem kulturellem Partikularismus; zusammengehalten durch die gewaltige integrative Kraft der Idee Europa.

Nur drei Jahrzehnte später ist von dieser Idee nicht viel mehr als das streitende, klappernde Verwaltungsgerippe übrig. Die politischen Institutionen besitzen kaum integrative Kraft, von Faszination spricht ohnehin niemand mehr. Zu viele EU-Wahlen verkamen zu Momentaufnahmen der jeweiligen nationalen Politlandschaften. Statt die Kultur vor Nivellierungstendenzen zu bewahren, beanspruchte die Politik selbst den Raum des Partikularismus.

Der Tod der europäischen Idee naht ganz langsam durch immer stärker metastasierendes nationalstaatliches Denken: Als Italien und Griechenland in der Flüchtlingsfrage vor etwa zwei Jahren um Hilfe baten, zeigten Deutschland und Frankreich den beiden betroffenen Ländern die kalte Schulter. Jetzt pochen Deutschland und Frankreich auf Solidarität, doch die Visegrád-Staaten schütteln den Kopf und transformieren dadurch die Flüchtlingskrise in eine Solidaritätskrise. Zusätzlich ist Frankreich doppelt paralysiert, durch Terroranschläge und den anwachsenden Rechtspopulismus, dem es rezeptlos gegenübersteht.

Auch der europäische Arbeitsmarkt, das europaweit vermasste Bildungssystem, Energie- und Umweltpolitik, Forschung und Entwicklung – alles bei weitem nicht mehr auf Plan. Nicht zu vergessen: die primär innenpolitisch motivierte Austrittsrute, die Großbritannien der EU seit Jahren ins Fenster stellt.

Europa darf nicht ...

Wie kann es weitergehen? More of the same ist höchstens noch in Österreich "erlaubt", denn wir kennen es nicht anders. Aber Europa darf nicht Österreich werden. In der EU sollten wieder Visionäre an der Spitze stehen, denn ohne politische Schwergewichte werden die 28 Regierungen mit weit über 50 nationalen Regierungsparteien kaum im europäischen Sinne führbar sein.

Europa braucht eine Verfassung, kein Verfassungssurrogat. Ohne Verfassung wird nur die Neuauflage des politischen Partikularismus begünstigt. Ein Zaun hier, eine aus nationaler Wahltaktik gespeiste Sondervariante dort. Die Mehrheit der Staaten wird wahrscheinlich eine Verfassung annehmen; jene, die sie ablehnen, werden mangels Alternative vermutlich dennoch enge Partner im Binnenmarkt bleiben.

... Österreich werden

Auch die Bedeutung und Rolle nationaler Regierungen auf europäischer Ebene muss – ohne Tabus – neu durchdacht werden. Von der Verkleinerung der Kommission über die Beschleunigung der Entscheidungsfindung im Europäischen Rat bis hin zur noch stärkeren Aufwertung des Europäischen Parlaments etc. Dass dringender Handlungsbedarf besteht und dass sich nicht nur etwas ändern muss, sondern auch wird, muss europaweit sprachlich vermittelt werden.

Doch ausgerechnet Deutschland, die Zugmaschine Europas, bleibt bei seiner narrativen Tradition. Nach den Sprachwissenschaftern Jacob und Wilhelm Grimm gibt es wieder eine einflussreiche Märchenerzählerin, die bagatellisiert, beschwichtigt und sediert. "Ein wenig Gift ab und zu: Das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben", schrieb Friedrich Nietzsche in seinem Zarathustra. Doch nach jeder noch so großen Dosis Sedativum kommt irgendwann das Erwachen. Enttäuschte Massen waren immer schon der Boden für Revolutionen.

Aus diesem Grund sollte dringend an der neuen Architektur Europas gearbeitet werden. Nicht alle der gegenwärtigen politischen Architekten müssen demissionieren; nur jene, die aus nationalen Motiven blockieren, beharren und sich rhetorisch-bürokratisch verbarrikadieren. Eine Veränderungsvision sollte formuliert und europaweit als Veränderungsprozess kommuniziert werden.

Eine neue Architektur ...

Vielleicht könnte – als Anreiz für den Kampf um die europäischen Spitzenpositionen – deren Prestige erhöht werden, vielleicht auch die damit verbundene Macht gegenüber den Nationalstaaten; es wäre kühn, aber überlegenswert, die EU-Spitzengehälter in Brüssel zu vervielfachen, damit auch die Elite der europäischen Wirtschaft motiviert wäre, in die Politik zu wechseln.

... und nur die Besten

Vielleicht könnten dann endlich die Besten Europas und nicht nur die am besten Vernetzten tätig werden, damit Europa zu jenem Sonnenaufgang wird, auf den 500 Millionen Menschen seit Jahren warten. (Paul Sailer-Wlasits, 9.12.2015)