Befragen das Werk von Joseph Roth: Antú Romero Nunes (rechts) und Florian Hirsch. "Hotel Europa" hat am Freitag Premiere (19.30 Uhr).

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Joseph Roth (1894–1939) schrieb der Monarchie hinterher.

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STANDARD: Was bedeutet der Projekttitel "Hotel Europa" mit Blick auf den Dichter Joseph Roth?

Hirsch: Wir haben uns entschieden, nicht etwa nur einen Roman Roths nachzuerzählen, sondern uns aus dem gesamten Kosmos seiner Texte zu bedienen und daraus einen Abend zu gestalten. Joseph Roth ist auf jeden Fall der Held des Abends "Hotel Europa". Es spielen auch andere Texte eine Rolle, etwa von Stefan Zweig, auch Aktuelles blitzt auf. Es wurde ja nicht ganz zu Unrecht bemerkt, dass Roth eine einzige zusammenhängende Erzählung geschrieben hat. Daraus ergeben sich bei genauerer Betrachtung allerhand Querverbindungen. Das kommt uns natürlich zugute.

STANDARD: "Hotel Savoy" ist aber das Sprungbrett?

Nunes: Tatsächlich haben wir aus dem Roman das Setting und eine gewisse Atmosphäre herausgenommen. Das bedeutet, dass Europa in einem Hotel "stattfindet". Die in diesem Hotel gestrandeten Figuren sind, wie so häufig bei Joseph Roth, nach existenziellen Erfahrungen in ihrem Leben in eine Sackgasse geraten, fühlen sich entwurzelt und verloren. Sie werden, was vielleicht noch schwerer wiegt, nicht mehr gebraucht.

STANDARD: Sie besitzen keinen Gebrauchswert für die moderne Welt?

Nunes: Sie geben sich Illusionen hin, betäuben sich geradezu mit diesen. Sie leben rückwärtsgewandt, so wie Roth selbst, vor allem in seinen letzten Jahren. Als Autor hatte er zugleich eine fast prophetische Gabe, was politische Entwicklungen angeht. Die Nazis benannte er sehr früh als den Feind, den es zu bekämpfen gilt.

Hirsch: Ein zentraler Text in unserer Unternehmung ist speziell auch unter diesem Aspekt der Roth-Essay "Der Antichrist", der heute gar nicht mehr gedruckt wird. Roth schrieb ihn, kurz nachdem er ins Exil nach Paris gegangen war. Eine furiose polemische Abrechnung, in der die Erscheinungsformen des "Antichristen" in Europa und der Welt durchdekliniert werden. Ein apokalyptisches Zeichen.

STANDARD: Eines anderen Europa als unseres heutigen?

Nunes: Ja, aber mit erstaunlichen Parallelen. Sagen wir, wir übertragen seine Angstvision von Europa auf unser hier und jetzt. Ich bin aber kein Politiker, also werde ich kein politisches Statement abgeben oder es in einem Kabarett verpacken. Ich versuche das mit den Mitteln des Theaters. Und ich erzähle immer Geschichten – von Menschen, ob es nun Hotelpagen, Soldaten oder Kaiser sind. Um dem Heute näherzukommen, interessieren mich derzeit besonders die Texte der Zwischenkriegsautoren, wie ich sie nenne. Die Texte von Kafka, Joseph Roth oder Brecht etwa. Oder auch von Federico García Lorca.

STANDARD: Was eint diese Stimmen? Die Erfahrung, unbehaust zu sein, in eine gottlose Welt entlassen zu werden?

Nunes: Ja, die Obdachlosigkeit in jeder Form spielt immer eine zentrale Rolle. Was Roth betrifft, so geht es sogar weiter: Er springt zwischen den Identitäten hin und her. War er Jude oder Katholik, Sozialist oder Monarchist? Wohl von allem etwas.

Hirsch: Auf jeden Fall ein Mythomane, der allerlei Geschichten über sich selbst erfunden und sich zunehmend in "erfundenen Schicksalen verloren" hat.

Nunes: Er türmt Illusionen und Identitäten übereinander wie Schnapsglas auf Schnapsglas. Das bringt uns zurück zu unserem Hotel: Es wird zum Asyl für eine Gruppe von Menschen, von denen jeder eine ganze Welt verloren hat und diese Revue passieren lässt, um dann den Exit zu begehen.

STANDARD: Europa sieht sich gerade mit der Notwendigkeit konfrontiert, vielen Menschen Herberge zu gewähren. Von hier führt die Verbindungslinie zurück zu Roth?

Nunes: Wir haben mit Brecht gelernt, dass die Historisierung nur ein Transportmittel sein kann. Wenn er den "Guten Menschen von Sezuan" schreibt, dann nicht, weil er etwas über China erzählen will, sondern über uns. Wir haben uns Roth zum Partner erkoren, um einen Blick auf das Heute zu werfen. Man hätte sich vor dem Ersten wie auch vor dem Zweiten Weltkrieg nicht denken können, dass ein Umsturz so rasch und überstürzt passiert, dass er eine ganze Welt ausradiert. Das ging damals über jede Vorstellungskraft. Heute geht ein wenig die Angst um, dass wir vor genau so einem Umsturz wieder stehen.

Hirsch: Roth war ein leidenschaftlicher Anhänger des Übernationalen. Er hat die Donaumonarchie stark idealisiert, zum Teil aber auch, etwa im "Radetzkymarsch", sehr satirisch beleuchtet. Er trat zeitlebens für die Sprachenvielfalt ein, eine Art EU "avant la lettre". Wenn heute Viktor Orbán vom "liberalen Blabla-Europa" spricht, dann erhält man schon einen Eindruck davon, was es zu verteidigen gilt.

STANDARD: Aber so richtig geschätzt hat man die Monarchie erst, als es sie unwiderruflich nicht mehr gab?

Hirsch: Natürlich, und sie war auch ein autokratisches System mit erheblichen Mängeln. Ich will sie keineswegs mit der EU gleichsetzen. Man wacht allerdings auch heute nicht jeden Morgen auf und denkt: "Die EU ist das Beste, was uns je passieren konnte." Wir werden aber merken, was uns fehlt, wenn sich die Nationalstaaten wieder stärker voneinander abschotten.

Nunes: Ich hätte es vor ein paar Jahren nicht für möglich gehalten, dass man jetzt davon sprechen könnte, das Schengen-Abkommen wieder aufzulösen. Aber natürlich kann es passieren, rückblickend wird es dann als ganz logische Folge erscheinen. Heute gibt es keine Idee, keine Vision für Europa, die das entstandene Vakuum füllen könnte.

STANDARD: Was sind die Spielangebote von "Hotel Europa"?

Nunes: Wir zeigen das Hotel, eine im Grunde leere Bühne, auf der Menschen die "Welt von Gestern" Revue passieren lassen und miteinander in Szenen hineingeraten. Sie erzählen Geschichten, vom Suchen und Finden und Wiederverlieren der Liebe etwa. Wie die Geschichte des Stationschefs der österreichischen Südbahn Adam Fallmerayer, der nach einem Zugunglück Hals über Kopf in den Krieg zieht, seine Familie verlässt, weil er in Liebe zu einer russischen Gräfin entbrannt ist.

Am Ende steht er natürlich vor dem Nichts, aber immerhin hat er einmal wirklich geliebt. Oder die Geschichte eines Soldaten, der beim Läuten der Kirchenglocken nur noch an die Geschütze denken kann, aus denen diese Glocken gegossen wurden. Es geht um Menschen, die ihre Heimat verloren haben und die diese nun umso leidenschaftlicher pflegen. Alle Figuren scheitern am Antichrist, den sie sogar in sich selbst entdecken. Roth entlarvt immer wieder eine kleinbürgerliche Denkweise, ohne die es keine Monarchie, aber auch keinen Hitler, keinen Stalin gegeben hätte. Diese Denkweise existiert heute weiter. Ich habe mir vorgenommen, keine lineare Geschichte zu erzählen. Die Welt ist eben nicht mehr linear zu erfassen. Die Postdramatik ist nur auch nicht mehr die adäquate Lösung. Es sind eher Punkte, die man setzt, und der Zuschauer muss die Verbindungslinien zwischen ihnen ziehen. (INTERVIEW: Ronald Pohl, 9.12.2015)