Es ist, als ob von einem Balkon im Cannaregio-Viertel Weihnachtslieder in die dunklen Gassen her abrieseln und in den schwarzen Kanälen versinken: erst die Melodie von Stille Nacht, heilige Nacht, dann ein italienisches Lied zu einer anderen Notenfolge – bis jemand oben in der Wohnung im zweiten Stock die Balkontür wieder schließt und die Musik fast wieder verschwunden ist. In zwei Fenstern hängen elektrisch beleuchtete Weihnachtssterne, ein paar Schritte weiter sind Kerzen hinter einem großmaschig gewebten Vorhang zu erahnen. Und irgendwo in der Ferne läuten die Glocken einer Kirche.

Ruhig ist es geworden – nicht nur in den engen Gassen des alten Handwerkerviertels von Venedig, auch auf der von Geschäften gesäumten Strada Nuova, die mit Verzweigungen auf den Markusplatz führt und unterwegs ein paarmal den Namen wechselt. Nur einzelne Schritte hallen in den Seitengassen durch die Nacht, deren Echo wird von den Fassaden der drei- und viergeschoßigen Häuser mehrfach zurückgeworfen. Lange Schatten eilen über die gewölbten Brücken, und mancherorts zieht zarter Nebel über dem Wasser auf. Von irgendwoher lacht jemand aus dem Dunkel, und in einem Hauseingang küsst sich ein Paar.

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Zur Adventzeit ist es in der gesamten Lagunenstadt überraschend beschaulich.

Spätabends im Advent ist es still in Venedig, fast einsam in den Straßen entlang der Kanäle, in den Schluchten zwischen den Patrizierhäusern aus einer anderen Zeit. Manchmal sogar wirkt es ein wenig geisterhaft – bis eine Straßenbiegung und zwei kleine Brücken weiter wieder Weihnachtsdekoration ins Blickfeld gerät und aus der einen Spalt breit geöffneten Tür einer Kirche Weihnachtsmelodien klingen. Diesmal sind es helle Stimmen, und noch nicht jeder Ton sitzt: Es wird die Generalprobe sein, denn für den übernächsten Abend kündigt das Plakat an der Tür die Premiere an, Auszüge aus Bachs Weihnachtsoratorium soll es geben – diesen Sonntag und danach noch an fünf weiteren Terminen.

Früh in Richtung Bahnhof

In Venedig, dieser ansonsten fast immer von Touristen überquellenden Stadt, ist in der Vorweihnachtszeit vergleichsweise wenig los – besonders an den Abenden. Denn ist es erst mal dunkel geworden, ist die Kühle der Nacht über der Adriaküste aufgezogen, verschwinden die Tages besucher bereits früh mit den Linienbooten Richtung Hauptbahnhof und Großparkhaus außerhalb des historischen Zentrums.

Sogar die Herren mit den flachen, hellen Hüten, die tagsüber an den Stegen auf Kundschaft warten, mit einer Handbewegung auf ihre schmalen schwarzen Holzboote weisen und ständig "Gondola? Gondola?" rufen, sind wie vom Erdboden verschluckt. Die Gondolieri machen ihre Geschäfte zu anderen Tages- und Jahreszeiten. Viele Gondeln sind unter blauen Planen verschwunden und fürs Erste fest vertäut.

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Murano-Glasluster als Weihnachtsbeleuchtung über einem Kanal der venezianischen Insel Murano.
Foto: picturedesk/Christian Kober/robertharding

Venedig in der Vorweihnachtszeit – das sind natürlich auch Weihnachtsmärkte wie anderswo, das sind Lichterketten, die über die Strada Nuova gespannt sind, das sind sogar ab und zu als Weihnachtsmänner verkleidete Ruderer auf dem Canal Grande, weil irgendwer einmal gesagt hat, so etwas würde den Tourismus ankurbeln. Es gibt Stände mit Maroni, solche mit Bergen von Schokoweihnachtsmännern in Alufolie, und solche mit Türmen von Panettone. An der Fassade des kleinen Kaufhauses nahe der Rialtobrücke leuchten die elektrischen Weihnachtssterne, in den Schaufenstern hat es dieses Jahr weißes Konfetti geschneit.

Es riecht nach Keksen

Sogar Weihnachtsbäume haben Einzug in die venezianische Kulisse gehalten, die jahrhundertelang ohne dekorierte Tannen auskam. Aber auch die Krippen gibt es noch, die früher auffälligstes Zeichen der Vorweihnachtszeit in der Lagunenstadt waren.

Aus all dem machen vor allem die Abende etwas ganz Besonderes, diese Spaziergänge bei Dunkelheit, wenn die Reflexionen einzelner Lichter im Wasser der stillen Kanäle die eigentliche Weihnachtsbeleuchtung sind. Von irgendwoher zieht noch eine letzte Schwade Maronigeruch herüber, von anderswoher duftet es nach Keks, die gerade jemand zu Hause bei halb geöffnetem Fenster backt. Es sind solche Eindrücke und die Melodien durch die halb offenen Balkon- oder Kirchentüren, die den Zauber ausmachen. Endlich ist es still genug in der Lagunenstadt, ihn im Alltag zu finden. Und tagsüber hofft man, dass es bald wieder Nacht werden möge, damit der nächste Spaziergang für die Sinne beginnen kann.

Wenn Gondelbauer verreisen

Was Einheimische wie Gondelbauer Lorenzo della Toffola vor Weihnachten machen? "Verreisen", sagt der wortkarge Mann. "Weil um diese Zeit weniger Gondeln fahren und deshalb noch weniger eilig zu reparieren sind." Es ist Nebensaison – auch auf seiner Werft Squero di San Trovaso.

Was die anderen Venezianer machen? Sie kaufen Geschenke ein, und später auf dem Rialtomarkt die Zutaten fürs Festessen. Sie atmen durch, genießen die relative Ruhe, sind in Restaurants abseits der touristischen Rennstrecken auf einmal unter sich.

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Erst zu den Weihnachtsfeiertagen füllen sich Hotels und Straßen langsam wieder, und zu Silvester herrscht Rummel wie im Sommer. In den Wochen vor Weihnachten aber scheint dieses adventliche Venedig zur Ruhe zu kommen. Das liegt vor allem am Wetter, denn im Dezember ist Venedig nicht diese Katalogschönheit wie auf den Karnevals- und den Sommerbildern.

Raum für Melancholie

Schnee gibt es in der Stadt zwar fast nie, aber hauchzarte Eisschichten auf den Wasserlacken in den Straßen. Oft ist es nasskalt, nebelig, und häufig kommt es gerade um diese Jahreszeit zu Hochwasser. Ob das für Besucher schlimm ist? Eher im Gegenteil. Es ist ein Erlebnis. Eines, das zu einer Stadt in so einer Lage passt. Das Szenario bietet obendrein umso mehr Raum für gewisse Melancholie – und das ist etwas, was gerade bei Venedig fester Bestandteil der Erwartungshaltung ist.

Und dann ist da wieder die Melodie von Stille Nacht. Der Abendwind holt sie diesmal aus einem Hof, lässt sie über Dächern nicht weit vom Campo Santa Maria Formosa wieder fallen – diesmal mit italienischem Gesang. Zwei Frauenstimmen singen Astro del Ciel, so heißt der Klassiker hier. (Helge Sobik, 6.12.2015)