Fährt man mit dem Taxi aus dem Zentrum Sarajevos Richtung Westen, bewegt man sich zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Auf der einen Straßenseite moderne Shopping-Paläste, auf der anderen erinnern von Granatsplittern zernarbte Fassaden auch 20 Jahre nach dem Friedensabkommen von Dayton noch immer an den Krieg. Das Redaktionsgebäude der Traditionszeitung "Oslobođenje" hat etwas von beidem: An den Mauern sind noch die zerstörerischen Spuren der serbischen Belagerer zu sehen, die Sarajevo über drei Jahre lang terrorisierten. Die Redaktion liegt direkt an der Straße, die während des Krieges als "Sniper Alley", als "Scharfschützen-Allee", traurige Berühmtheit erlangte. Unterbrochen hatten die Journalisten ihre Arbeit trotz des Terrors nicht. Sie verlegten die Produktion einfach in den Luftschutzkeller. Und die Zeitung erschien jeden Tag.

"Unser Land regiert die Mafia"

Seit dem Wiederaufbau scheint sich hier wenig verändert zu haben. Schon im Foyer grüßt ein Porträt von Tito, in den engen Glasbüros stehen auf jedem Tisch gut gefüllte Aschenbecher. Hier und da sogar noch ein Röhrenbildschirm. Vildana Selimbegović sitzt seit 2008 auf dem Sessel der Chefredakteurin. Mehr als tausend Reportagen hat sie im Krieg von der Front geschrieben. Über die Verbrechen der gegnerischen Armee genauso wie über die der eigenen. "Ich schrieb alles auf, was ich sah", sagt sie. Der Politik habe das nicht sehr gefallen.

Vildana Selimbegović lässt sich auch von Drohungen nicht einschüchtern.
Foto: Boris Böttger

Auch heute würden sich Politiker über die Berichterstattung der "Oslobođenje" beschweren, denn ihre Journalisten ließen sich nicht kaufen. Ob Korruption hier zum Alltag gehöre? Selimbegović lässt sich mit der Antwort Zeit. Nachdenklich blickt sie aus dem Fenster über die Stadt. "Jedes Land hat seine eigene Mafia, aber unsere regiert das Land", sagt sie dann. 20 Jahre nach Kriegsende schaffe es das Land noch immer nicht, auf eigenen Beinen zu stehen.

Drei Ethnien, (k)ein Staat

Auch im nüchternen Diplomatenkomplex, in dem der Hohe Repräsentant Bosniens (OHR) sein Büro eingerichtet hat – seit 2009 ist das der Österreicher Valentin Inzko –, ist von Aufbruch wenig zu spüren. Inzko ist an diesem Tag bei einem Workshop in London, dort geht es um "Globalising Dayton" und die Lektionen für die internationale Gemeinschaft nach 20 Jahren Friedensmanagement.

Bruce Berton, Inzkos "Principle Deputy", bringt das Dilemma auf den Punkt: "In den letzten Jahren stagniert die politische und ökonomische Entwicklung", sagt der smarte Karrierediplomat, der sein Amt erst vor sieben Wochen angetreten hat. Un dies, obwohl gut fünf Milliarden Euro in den Wiederaufbau geflossen seien. "Der politischen Führung fehlt es an Visionen." Kein Wunder, dass, wie Berton sagt, auch "nicht besonders viele Aktivitäten" anlässlich des Dayton-Jahrestags geplant sind.

Diplomatin Ulrike Hartmann und Bruce Berton über die Rolle des OHR in Bosnien-Herzegowina.
Foto: Boris Böttger

Aufgabe des OHR ist es, Bosnien-Herzegowina und seine Bevölkerung, die in den beiden Entitäten – der bosnisch-kroatischen Föderation und der Republika Srpska – mehr neben- als miteinander lebt, auf Friedenskurs zu halten. Das Konstruktionsprinzip des jungen Staates sei das komplizierteste, das er in seiner Diplomatenlaufbahn bisher gesehen habe, meint Berton: "Drei Ethnien, zwei Entitäten und keine Perspektive für einen gemeinsamen Staat." Schon gar nicht für einen EU-Beitritt: "The country remains at a standstill in the European integration process", hieß es auch im letzten Bericht der EU, die jedes Jahr die Fortschritte Bosniens bewertet. "Das Land ist ethnisch so gespalten wie je. Und die Wunden des Krieges sind immer noch frisch", sagt Berton.

Sicher ist sicher

Im Camp Butmir, auf dem Gelände des Flughafens von Sarajevo, sind die letzten 600 Soldaten stationiert, die in Bosnien den Frieden überwachen sollen. Der Militäreinsatz, den erst die Uno, dann die Nato koordinierte, wird seit 2004 von der EU im Rahmen der Eufor-Mission Althea durchgeführt, auch 200 österreichische Soldaten sind hier noch im Einsatz.

Das Camp empfängt Besucher mit Verbotsschildern, Stacheldrahtzaun und hohen, mit Sicherheitskameras bestückten Betonmauern. "Wenn ich in der Früh laufen gehe, sind das mindestens vier Kilometer am Zaun entlang", erzählt Oberstleutnant Knut Scheutz, Leiter des Althea-Public-Affairs-Teams, und zeigt uns mit dem Auto das Gelände. Wir passieren die Wäscherei, einige Läden, schließlich die "Ö-Bar". "Daneben sind gleich die Iren mit ihrer Bar. Was das Feiern betrifft, gibt es allerdings strenge Vorschriften", sagt Scheutz.

Strenge Regeln gibt es auch für den Umgang mit der komplizierten Situation im Land. "Wenn wir öffentliche Einrichtungen subventionieren, müssen wir das Geld gleichmäßig auf alle drei Ethnien verteilen", erklärt der Offizier, der sich seit 2005 immer wieder freiwillig für Bosnien gemeldet hat. Er habe das Gefühl, die Bevölkerung fühle sich aber durch die Anwesenheit der Soldaten insgesamt sicherer, meint er. Diese ist nun zumindest für ein weiteres Jahr fix, wie der UN-Sicherheitsrat Anfang November beschloss. "Noch braucht Bosnien-Herzegowina unsere Unterstützung", meint Scheutz.

Nationalistische Übergriffe

"Bosnien ist innerlich zersplittert", weiß auch der Journalist Srečko Latal. Im Bosnienkrieg schrieb er für die Nachrichtenagentur AP aus Sarajevo, zählte jeden Morgen die Zahl der getöteten Zivilisten in den Leichenhallen der Krankenhäuser, berichtete nach dem Krieg aus dem Kosovo und Afghanistan. Latal ist Gründungsmitglied des Balkan Investigative Reporting Network (BIRN), das sich unabhängige Berichterstattung aus allen Balkanländern zur Aufgabe gemacht hat – "Balkan Insight" gilt als eine der verlässlichsten Quellen für Nachrichten aus der Region. In den vergangenen Monaten seien die alten Konflikte wieder sichtbar geworden, sagt Latal.

Das Klima zwischen den Ethnien bereitet Srečko Latal Sorgen.
Foto: Boris Böttger

In einem der kahlen Gebäude der ehemaligen Marschall-Tito-Kaserne, in dem nach dem Krieg die Nato ihre täglichen Pressekonferenzen abhielt und heute ein Institut der Universität Sarajevo Postdiplomstudien anbietet, ist Latal die Sorge um "sein Bosnien" ins Gesicht geschrieben. "Die Lage ist fast so düster wie im Jahr 1996", sagt er und erzählt, dass es über den Sommer hinweg mehr als 200 ethnisch motivierte Übergriffe gegeben habe.

Mutlos und notleidend

Dabei sei Bosnien in den ersten Jahren nach dem Krieg eine regelrechte Erfolgsgeschichte gewesen. Doch dann habe sich das OHR ab 2006 immer stärker zurückgezogen, ebenso die USA. Das Büro des Hohen Repräsentanten sei heute "eine leere Hülle", das von seinen Machtbefugnissen, den "Bonn Powers", keinen Gebrauch mache – obwohl Inzko widerspenstige Politiker eigentlich feuern und so direkt in den bosnischen Gesetzgebungsprozess eingreifen könnte. "Und die EU ist eine 'Cashcow' ohne Cash."

"Die Menschen sind extrem entmutigt und notleidend", sagt Latal. Aber es gebe auch positive Zeichen. Nach der Hochwasserkatastrophe etwa, im vergangenen Jahr, hätten die Menschen einander über die ethnischen Grenzen hinweg geholfen. "Es gibt noch Hoffnung für das Land." Dennoch verlassen viele ihre Heimat. Allein an österreichischen Universitäten sind fast 4.000 Studierende aus Bosnien-Herzegowina gemeldet. Kein Wunder bei einer Jugendarbeitslosigkeit in Bosnien von fast 60 Prozent.

Optimismus, der ansteckt

Das dreistöckige Gebäude in der Skenderpašina 1, südlich der Miljacka, die Sarajevo durchschneidet, ist so etwas wie die gebaute Antithese zu den abgeschotteten Burgen der Diplomaten und Militärs. Offen, modern, in frischem Weiß gestrichen, entsteht hier mit "Networks.ba" der erste Start-up-Hub Bosniens.

In den Räumen türmen sich noch originalverpackte Möbel von Ikea, Maler und Elektriker bringen wenige Tage vor der Eröffnung den letzten Schliff an. Mittendrin strahlt Edin Mehić unverwüstlichen Optimismus aus, der unweigerlich ansteckt. Gemeinsam mit zwei Freunden hat Mehić mehr als eine Million Euro privates Kapital investiert, um der jungen Generation Bosniens endlich eine Perspektive zu eröffnen. "Das ist unsere Investition in die Zukunft", sagt Mehić, der die innovationsfreudigsten der 50.000 Studenten der Stadt mit den kreativsten Vertretern der bosnischen Diaspora von Boston bis Wien und natürlich mit kapitalstarken Unternehmen im In- und Ausland vernetzen will.

Edin Mehić schafft neuen Raum für innovative Ideen.
Foto: Boris Böttger

"Wir wollen dieses Land verändern und versuchen, ein komplettes Ökosystem für Jungunternehmer aufzubauen. Denn ich habe gelernt, dass nicht der Staat oder die Massen wirklichen Wandel bewirken, sondern Menschen mit einer Leidenschaft."

Bei "Networks.ba" gibt es auf 1300 Quadratmetern alles, was auch coole Start-up-Inkubatoren in Berlin und im Silicon Valley bieten: "Hot Desks", "Co-Working Spaces", High Tech und 3D-Printer und natürlich einen Yogaraum, in dem sich die künftigen Internet-Entrepreneure zwischendurch entspannen können. "Ich bin wirklich gut darin, Unternehmen zu gründen", sagt Mehić, der 15 war, als der Krieg in Sarajevo ausbrach. Schon als Jugendlicher habe er mit dem Gründen begonnen, erst Hardwarebeschleuniger für den Commodore 64 verkauft, später Datenbanken für die UNO und die bosnische Regierung programmiert, Bars und Restaurants betrieben und schließlich 2003 mit Posao.ba das heute größte Internet-Jobportal des Landes gegründet.

Der Unternehmer als Hacker

Von den meisten Firmen hat er sich wieder getrennt, Anteile seines Jobportals an die britische Daily-Mail-Gruppe verkauft. "Jetzt habe ich neue Spielsachen", lacht er und führt durch die hellen Büros, Workshop- und Seminarräume, in denen bald innovative Prototypen und Geschäftsmodelle entstehen sollen. "Ja, es ist schwierig, in Bosnien ein Unternehmen zu gründen, sogar deine Mutter wird dich für verrückt halten", sagt Mehić. Von der staatlichen Bürokratie und den ethnischen Streitereien im Land lässt er sich jedenfalls nicht beeindrucken. "Als Unternehmer ist man eigentlich Hacker, also Problemlöser. Wer sich auf den Staat verlässt und auf den Wandel wartet, der vergeudet sein Leben." (Anna-Magdalena Druško, Jacqueline Winkler, Mitarbeit: Sara Griesbacher, Lisa Mayrhofer, Pia Unger und Thomas Wolkinger, 27.11.2015)