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Die französische Armee patouilliert dieser Tage auf öffentlichen Plätzen wie jenem neben dem Pariser Eiffelturm.

Foto: AFP/Saget

STANDARD: Hat die französische Armee genügend Kapazitäten, um großangelegt im Inland zusammen mit der Polizei gegen den Terror zu kämpfen?

Ronja Kempin: Das ist eine schwierige Frage, vor deren Beantwortung sich letztlich auch der französische Staatspräsident drückt. Die Armee klagt seit langem über Unterfinanzierung, aber auch über den massiven Personalabbau, den noch die konservative Vorgängerregierung 2008 eingeleitet hat. Vorgesehen war, bis 2019 mehr als 80.000 Dienstposten, also ein Drittel der Streitkräfte, abzubauen. 60.000 sind bis heute schon gestrichen. Als Reaktion auf die Anschläge hat Präsident François Hollande entschieden, vorerst nicht weiter abzubauen.

STANDARD: Der Antiterrorkampf in Afrika bindet wohl ohnehin viele Kräfte.

Kempin: In Mali und in der Zentralafrikanischen Republik sind ungefähr 1.600 Soldaten im Einsatz. Etwa 700 sind permanent im Ostmittelmeer und im Persischen Golf stationiert, wo 2011 eine neue Militärbasis in den Vereinigten Arabischen Emiraten eröffnet wurde. Seit 2014 beteiligt sich Frankreich an der internationalen Allianz gegen den IS im Irak, seit Ende September 2015 wird auch in Syrien angegriffen. Wenn man sich vorstellt, dass bei der personell ähnlich aufgestellten deutschen Armee nur zehn Prozent der 190.000 Soldaten im Ausland einsetzbar sind, kann man davon ausgehen, dass die französischen Streitkräfte aktuell sehr knapp an der Kapazitätsgrenze operieren.

STANDARD: Hollande hat angekündigt, 10.000 Soldaten zum Schutz von Bahnhöfen, öffentlichen Gebäuden und der Grenzen einzusetzen. Betrachtet man die Zahlen, wird er das nicht einhalten können.

Kempin: Für ihn geht es darum, Handlungsfähigkeit zu beweisen. Die Franzosen wissen aber spätestens seit dem Libyen-Einsatz 2011 um die engen Grenzen ihrer Einsatzstärke. Damals waren Franzosen und Briten auf die Hilfe der USA angewiesen. Das erklärt auch, warum sich Hollande nach den Anschlägen sehr massiv um die Einbindung der USA und Russlands sowie der EU-Partner bemüht hat. Allein kann Frankreich den militärischen Kampf gegen den IS nicht gewinnen. Die Streitkräfte weisen darauf seit Jahren regelmäßig hin, bisher hat die Politik die Situation aber stets schöngeredet. Nach den Anschlägen hat die Regierung nun zum ersten Mal versichert, bei der Armee vorerst nicht weiter zu sparen.

STANDARD: Paris hat bei der EU schon öfter um budgetäre Nachsicht gebeten, wenn es um Verteidigungsausgaben ging. Wie argumentiert man da?

Kempin: Die französische Regierung drängt seit langem auf Nachsicht bei den Konvergenzkriterien, etwa indem die EU die Militärausgaben Frankreichs aus den Budgetzahlen herausrechnet. Sie argumentiert damit, dass Frankreich schon seit 2008 den internationalen Terrorismus als die größte Bedrohung Europas definiert hat. Indem Frankreich aktiv gegen Terrornetzwerke und instabile Staaten in seiner traditionellen Einflusssphäre Afrika vorgeht, kämpfe es für die Sicherheit ganz Europas. Im Umkehrschluss pocht Paris auf budgetäre Solidarität durch die EU-Partner.

STANDARD: Ist man damit erfolgreich?

Kempin: Bislang nicht. Als permanentes Mitglied im UN-Sicherheitsrat hat Frankreich ein völlig anderes Selbstverständnis als die meisten anderen EU-Staaten. Die Mehrheit der EU-28 sieht das Militär im Gegensatz zu Frankreich und Großbritannien nicht als Mittel der Außenpolitik und plant deshalb wesentlich konservativer, auch budgetär.

STANDARD: Alle paar Jahre lassen Präsidenten ein "Weißbuch zur Verteidigung und nationalen Sicherheit" erstellen, zuletzt Hollande 2014. Hat man die Entwicklung vorhergesehen?

Kempin: Dieses Weißbuch stellt den analytischen Rahmen der sicherheitspolitischen Dokumente Frankreichs dar. Aus der Rückschau auf fünf Jahre versucht man Prognosen für die Zukunft abzuleiten und Prioritäten für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu definieren. Das sogenannte militärische Programmgesetz wagt danach den Versuch, diese Analysen in militärische Planungen umzusetzen, aktuell von 2014 bis 2019. Hollande hat dieses Gesetz nun insofern ausgesetzt, als keine weiteren Stellen mehr gestrichen werden und die Finanzen der Armee unangetastet bleiben.

STANDARD: Im Gegensatz etwa zu Deutschland kann die Armee auf Befehl des Präsidenten schnell eingesetzt werden – auch im Inland und ohne großen parlamentarischen Prozess. Ist das die Zukunft auch außerhalb Frankreichs?

Kempin: Infolge der Anschläge wird man meiner Meinung nach schneller zu einem gemeinsamen Schutz der Außengrenzen finden. Dafür bieten sich paramilitärische Einheiten – wie früher der deutsche Bundesgrenzschutz – an. In Deutschland ist ein Einsatz der Bundeswehr im Inneren aufgrund des strikten Trennungsgebots im Grundgesetz zwischen Bundeswehr und Polizei aber de facto ausgeschlossen. Bei uns ist das eine Lehre aus dem Nationalsozialismus. Andere Länder hingegen haben Hybridkräfte, etwa die Gendarmerie, die polizeiliche Aufgaben übernehmen könnten. Dass in Deutschland der Bundestag einem Einsatz im Ausland zustimmen muss, wird sich aber auch nicht so bald ändern. Bisher war dieser Parlamentsvorbehalt ohnehin nie ein Hindernis, die Bundeswehr schnell einzusetzen. Vor allem in Zeiten der großen Koalition finden sich einfach große Mehrheiten. Der Bundestag kann in Krisenzeiten binnen 24 Stunden zusammengerufen werden. Deutschland ist reaktionsfähiger, als man denkt.

STANDARD: Hollande galt lange als wenig aktionistisch, nun inszeniert er sich medial als Mann der Tat und wählt durchaus martialische Rhetorik. Was erhofft er sich von dem harten Auftreten politisch?

Kempin: Man darf nicht vergessen, dass Frankreich in diesem Jahr schon zum zweiten Mal getroffen wurde. Spätestens seit August rufen IS-Propagandisten regelmäßig in Videos zu Anschlägen in Frankreich und auf Franzosen auf. Das Land steht ganz anders im Brennpunkt als Deutschland oder Österreich. Hollande muss einerseits die Bevölkerung auf einen langen Kampf einschwören. Diese Botschaft kommt laut Umfragen bei siebzig Prozent der Franzosen an. Andererseits stehen in Frankreich Regionalwahlen bevor, und die Opposition, allen voran Marine Le Pen (vom rechtsextremen Front National, Anm.) und Nicolas Sarkozy (von den konservativen Republikanern, Anm.), hat Hollande die Gefolgschaft verweigert und will sich nicht an seiner nationalen Allianz beteiligen. Das erklärt auch die Deutlichkeit und die Schärfe, die Hollande in seinen Reden an den Tag legt. Er will sich keine Schwäche leisten. (Florian Niederndorfer, 27.11.2015)