Nach der Epochenwende 1989 und der in konsequenten Schritten verwirklichten Erweiterung der Europäischen Union von sechs auf 28 Staaten schien ein Traum vieler Europäer in Erfüllung zu gehen. Der Traum, auf einem Kontinent zu leben, der nicht durch Mauern, Stacheldrähte, Wachtürme und Minengürtel zerschnitten ist, in einem Europa der Vielfalt, in dem Menschen sich frei bewegen und Ideen, Güter und Dienste ungehindert ausgetauscht werden können. Wenn auch die zu lange ausbleibende Gleichheit der Lebenschancen bei den Bürgern Osteuropas Ernüchterung und Enttäuschung ausgelöst hat, ist der Zauber des Westens weltweit ungebrochen geblieben.

Statt eines – wie in den Römer Verträgen formuliert – "immer engeren Zusammenschlusses der europäischen Völker" steckt die Union heute in einer tiefen ideellen und strukturellen Krise. Die zentrifugalen Kräfte werden nicht nur nicht eingedämmt, sondern auch infolge der akuten Krisensituationen im Nahen und Mittleren Osten verstärkt. Kein Wunder, dass angesichts der Anschläge der Terrormiliz "Islamischer Staat" und der Rückschläge in Irak und Afghanistan, der Eurokrise, des Ukraine-Konflikts und der Völkerwanderung vor dem Hintergrund der Solidaritätsverweigerung durch die neuen Mitgliedsstaaten das Gefühl der Verunsicherung und der Hilflosigkeit immer mehr überhandnimmt.

Alle Umfragen bestätigen, dass das Vertrauen in die Problemlösungskraft der einzelnen Regierungen und der Institutionen der EU (Rat, Kommission und Parlament) viel geringer geworden ist. Angesichts des Gefühls der Überwältigung und der Orientierungslosigkeit erzielen vor allem rechts-, aber auch linkspopulistische Parteien mit europa- und systemkritischen Tönen überraschende Erfolge. Nicht alle gemäßigten Mitte-rechts- und Mitte-links-Parteien können der Versuchung der machtpolitisch nützlichen, aber mit Blick auf die angeblich geheiligten Grundwerte höchst riskanten Bündnisse mit den extremen Populisten widerstehen.

Rückblickend muss man feststellen, dass die Erweiterung der Union ihrer Vertiefung weit, gefährlich weit vorausgeeilt ist. Von einem politischen Grundkonsens kann weder in der Griechenlandkrise noch bei der Antwort auf die Herausforderung durch die Völkerwanderung noch bei der Reform der Institutionen gesprochen werden. Zu den Gemeinplätzen der gegenwärtigen Debatte gehören die Beteuerungen, dass die Gemeinschaft aus Krisen immer gestärkt hervorgegangen sei.

Angesehene Historiker und Politologen warnen, dass der Einigungsprozess keineswegs unumkehrbar sei. Ohne einen echten Schutz an den Außengrenzen des gemeinsamen Schengenraums und ohne eine Lastenteilung ist der Zusammenhalt der 28 Mitgliedsstaaten akut gefährdet. Wenn man die Reden der Ministerpräsidenten der Slowakei und Ungarns, Tschechiens und Polens und zugleich das entsprechende Echo in einem Großteil ihrer Medien über die Flüchtlingspolitik und die "enorme Gefahr" durch Migranten liest, ist es schwer zu glauben, dass diese Regierungen die gleiche Meinung vertreten wie etwa die deutsche, schwedische oder österreichische: Europa muss dem Terror trotzen, die Bürger und deren Würde schützen, aber eine offene Gesellschaft bleiben.

Vor dem Hintergrund der globalen Auswirkungen der an verschiedenen Orten fast gleichzeitig ausbrechenden Konflikte ist es verständlich, warum diese gefährliche Phase oft so beschrieben wird: "Die Welt ist aus den Fugen geraten." Es herrscht Ratlosigkeit, und die Gefahr der Renationalisierung wird von Tag zu Tag größer.

Kollektives Gift

Der Nationalstaat ist ein unverzichtbares Bauelement für die europäische Integration, und das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl darf nicht mit dem Nationalismus gleichgesetzt werden. Die Gründungsväter der Europäischen Gemeinschaft wussten, dass Europa am Gift des Nationalismus, an der kollektiven Selbstverherrlichung schon zweimal zugrunde gegangen war.

Für mich persönlich, der seit vielen Jahren die Sprengkraft des Nationalismus analysiert, ja zum Teil am eigenen Leib erlebt hat, bleibt die EU trotz aller Schwächen die absolute politische Erfolgsstory des 20. Jahrhunderts, die wir mit allen möglichen Mitteln gegen die nationalistischen und populistischen Brandstifter auch im 21. Jahrhundert verteidigen müssen. (Paul Lendvai, 20.11.2015)