Hinter Biertischen stehen drei Männer in bunten Turbanen auf Obstkisten und schöpfen aus riesigen Töpfen. In den letzten drei Monaten sind so rund 400.000 Teller über diese provisorische Theke gereicht worden. Flüchtlinge, die über Wien nach Deutschland reisen oder beispielsweise nach Traiskirchen zum Registrieren fahren, finden am Hauptbahnhof in der Notunterkunft deshalb immer eine warme Mahlzeit.

Armenspeisung als Tradition

Die Männer mit den Turbanen sind Sikhs, Anhänger einer monotheistischen Glaubensrichtung, die in Indien verbreitet ist und Islam und Hinduismus verbindet. In Wien leben rund 5.000 von ihnen. Sechs davon helfen täglich am Hauptbahnhof. Zwei Köche, zwei Fahrer und zwei Verteiler sind über acht Stunden täglich im Einsatz – und das seit drei Monaten.

Sie führen damit fort, was ein Guru vor rund 500 Jahren begonnen hatte. Der Begründer der Sikh-Religion, Guru Nanak, verwendete der Sage nach die 20 Rupien, die er von seinem Vater für ein neues Geschäft bekommen hatte, um hungrigen Armen Essen zu kaufen. Seither gibt es in jedem Sikh Tempel den "Langar", eine offene Küche, die rund um die Uhr warmes Essen für jeden bereithält und 100-Liter-Töpfe besitzt.

Aulakh und seine Sikh-Brüder teilen seit sieben Stunden Reis und Dal für die Flüchtlinge aus.
Foto: derstandard.at/von Usslar

Manjit Aulakh verteilt die Essenslieferungen, die ab vier Uhr morgens im Tempel im 22. Bezirk in der Langobardenstraße zubereitet werden. Er ist pensioniert, hat eine Weltreise aufgeschoben, seine Enkel und das Fitnesstraining vernachlässigt. Er will durchhalten, solange er gebraucht wird. "Die Hilfe meiner Gemeinde ist unendlich", das motiviere ihn.

"Menschen brauchen was Warmes im Bauch"

Was auf den Papptellern landet, ist vegan, verträglich für Gläubige aller Religionen, für Kinder und für Allergiker. "Jeder tut, was er kann", sagt Aulakh. "Was wir können, ist frisch kochen. Menschen brauchen warmes Essen im Bauch, dann kann man besser denken."

Gurdwara, Sikh-Tempel im 22. Bezirk.
Foto: derstandard.at/von Usslar

Heute gibt es Linsen-Dal, gewürzt mit Kardamom, Kurkuma und Zimt. Dazu Basmati-Reis. Die Zutaten werden entweder direkt als Spenden im Tempel abgegeben oder vom Geld, das in einem Kästchen am Altar gesammelt wird, angeschafft.

Sikhs gelten als geschäftstüchtig und großzügig und bekleiden in Indien nicht selten hohe Ämter. Aulakh hat in der amerikanischen Botschaft und vorher in der Uno gearbeitet – von dort kennt er auch den Fahrer Narinder Singh Mehar, der täglich zwischen zwei und fünf Stunden auf der Südosttangente im Stau steht, bis er mit den gigantischen Töpfen mit warmem Reis am Bahnhof eintrudelt. Dort werden die beiden von den vielen Helfern, die sich ebenfalls über das Essen freuen, umarmt und beklatscht. Die Sikh-Männer sind hier berühmt. (Maria von Usslar, 23.11.2015)