Wien – Der Klimawandel und die großen Unterschiede zwischen armen und reichen Ländern werden künftig dafür sorgen, dass mehr Flüchtlinge nach Europa strömen. Das sagt der Chefökonom der Weltbank, Kaushik Basu, im STANDARD-Interview. Wenn Regionen trockener werden, reiche oft schon ein kleiner Konflikt, und die Menschen würden aufbrechen. "Die Probleme sind auch Grund zur Hoffnung, dass die Politik die Entwicklungsagenda ernster angeht", sagt der Ökonom.

Schon der jetzige Zustrom an Flüchtlingen nach Europa und in den Mittleren Osten sei auch durch den Klimawandel in Krisenländern ausgelöst worden, so Basu. Langfristig könne man die Lage verbessern, indem man den Klimawandel ernster nehme, sagt der Ökonom im Vorfeld der kommenden Klimakonferenz in Paris. Kaushik Basu (63) ist Chefökonom der Weltbank. Zuvor war er wirtschaftlicher Chefberater der indischen Regierung und unterrichtete an der Cornell University in den USA.

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STANDARD: Die hunderttausenden Flüchtlinge, die nach Europa strömen, bereiten großen Teilen der Bevölkerung Sorgen. Lieber vor Ort helfen, sagen viele. Kann die Entwicklungspolitik da etwas machen?

Basu: Kurzfristig nicht. Die Flüchtlingskrise ist aber eine Erinnerung daran, wie wichtig es ist, langfristig zu denken. Jetzt ist die Krise da, und wir müssen uns fragen: Wie hätte es früher gehandhabt werden sollen? Zwei Dinge sorgen dafür, dass Menschen ihre Heimat verlassen. Konflikte – die wird es immer geben – und der Klimawandel. Letzterem schenken wir nicht genug Aufmerksamkeit, er schreitet langsam voran, schafft keine Schlagzeilen. Wenn Regionen trockener werden, steigt die Bereitschaft, sie zu verlassen. Dann bedarf es nur eines kleinen Konflikts, und die Leute ziehen weg. Die Flut an Menschen, die nach Europa kommen, viel mehr noch in den Mittleren Osten, ist eine Konsequenz dieser zwei Faktoren.

STANDARD: Der Klimawandel trifft ja vor allem ärmere Länder. Auch Konflikte in Syrien, dem Irak oder Afghanistan haben uns bislang wenig berührt. Ändert sich das jetzt?

Basu: Ja! Der Klimawandel und die extremen Unterschiede in der Welt werden für noch mehr Druck sorgen, mehr Flüchtlinge werden kommen. Früher konnte man sagen: Lassen wir die halt arm bleiben, bei uns ist es okay. Jetzt zeigt sich: Das können wir uns nicht leisten. Das Gute daran ist, das schafft Bewusstsein. Im armen Land fühlt man das Problem heute, im reichen eben morgen, wenn die Leute kommen. Die Probleme sind ironischerweise auch Grund zur Hoffnung, dass man die Entwicklungsagenda ernster angeht.

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STANDARD: Was heißt es eigentlich für die Herkunftsländer der Flüchtlinge, dass jetzt so viele migrieren?

Basu: Die Situation ist gänzlich anders als bei der herkömmlichen Migration. Da werden üblicherweise hohe Geldsummen nach Hause gesendet, das macht dreimal so viel aus wie die Entwicklungshilfe! Die jetzigen Flüchtlinge kommen mit der ganzen Familie. Wenn Einzelne kommen, wissen sie oft nicht mehr, wo der Rest steckt. Diese Leute werden nicht viel Geld nach Hause schicken. Der übliche Vorteil für die armen Länder fällt also weg. Der Nachteil, nämlich dass man produktive Leute verliert, ist aber auch nicht da. Denn in den Konfliktregionen konnten die meisten Menschen sowieso nicht arbeiten.

STANDARD: Könnte das, wenn die Leute in Europa ausgebildet werden, zu einem Vorteil werden?

Basu: Das könnte ein Riesenvorteil werden, das haben wir in der Vergangenheit oft gesehen. Die Leute fliehen vor dem Krieg und nutzen die Zeit im Ausland, um neue Dinge zu lernen. Das können sie dann zu Hause nutzen. Das ist genau die Strategie, deren es jetzt bedarf. Viele der Flüchtlinge werden für viele Jahre Flüchtlinge bleiben, es geht nicht nur um Hilfsgelder, es geht um Bildung für ihre Kinder, um Jobs und Wohnungen.

STANDARD: Sie sagten, Konflikte ließen sich kaum verhindern. Sie passieren aber vor allem in armen Ländern. Von denen gibt es trotz über 60 Jahren Entwicklungspolitik noch immer viel zu viele.

Basu: Wir haben schon viel getan, ohne all das wäre die Welt in einer schlechteren Lage, kein Zweifel. Einige Länder heben jetzt ab und waren hoffnungslose Fälle, etwa Indien. Indonesien entwickelt sich okay, in Afrika sind es etwa Ruanda oder Äthiopien. Konflikte sind etwas Grässliches, aber nicht jeder Konflikt ist ein Versagen der internationalen Gemeinschaft.

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STANDARD: Es gibt noch immer eine Milliarde armer Menschen.

Basu: Ja, das ist unser Versagen. Das hätte in einer so reichen Welt nicht passieren dürfen. Wir haben die extreme Ungleichheit auf dem Globus zu lange akzeptiert, sie war weit weg. Es ist tragisch, dass wir jetzt durch diese Konflikte und die Flüchtlingswelle daran erinnert werden.

STANDARD: Aber wo ist der Knopf, den man drücken muss? Der Aufbau im Irak und in Afghanistan ist kläglich gescheitert.

Basu: Natürlich haben wir nicht alle Rezepte, wir müssen weiter forschen. Aber die Konflikte im Irak und in Afghanistan kann man nicht uns in die Schuhe schieben. In friedlichen Ländern wissen wir in etwa, was wir machen müssen. Die Armut geht weltweit zurück. In Konfliktregionen kommen wir nicht rein. Auch wenn es harsch klingt, muss man mit den Regierenden vor Ort zusammenarbeiten, etwa wenn es um das Umsetzen von Impfungen geht. Unser Ziel bei der Weltbank ist, dass Armut in 15 Jahren nur mehr dann auftaucht, wenn ein Konflikt, eine Epidemie oder eine Wirtschaftskrise ausbricht.

STANDARD: Die Zahl der Armen sinkt zwar, die Armut so rasch auszulöschen klingt aber sehr ambitioniert.

Basu: Die Armut wird nicht auf null sinken, das ist nicht möglich. Jetzt leben circa zwölf Prozent der Menschen weltweit mit weniger als 1,90 Dollar am Tag. In der Weltbank ist unser Ziel, das auf unter drei Prozent zu drücken. Wenn die Länder so weiterwachsen wie bisher, kommen wir auf fünf bis sechs Prozent bis 2030. Wachstum alleine wird also nicht reichen, vor allem weil es schon fragwürdig ist, ob wir so weiterwachsen können wie bisher. Wir brauchen strategische Interventionen im Bildungs- und Gesundheitsbereich.

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STANDARD: Ist es für arme Länder heute schwieriger, reich zu werden, als in der Vergangenheit?

Basu: Nein, ich glaube, es ist einfacher. Es gibt Technologien, von denen viele profitieren. Man kann heute in Manila, Johannesburg oder in Bangalore sitzen und für jemanden in Wien oder New York arbeiten. Wenn man sich als armes Land gut organisieren kann, kann man so einfach an der globalen Wertschöpfung teilnehmen. Dafür hat man früher ein Migrantenvisum gebraucht. Indien zum Beispiel profitiert massiv von seiner Zusammenarbeit mit dem Silicon Valley. Die Philippinen und Südafrika machen Ähnliches. Das ist auch für Subsahara-Afrika möglich.

STANDARD: Indien wächst mittlerweile schneller als China, das die extreme Armut in den vergangenen Jahrzehnten fast ganz ausgelöscht hat. Folgt das nächste Wunder?

Basu: Indien kann China nicht kopieren, dazu bräuchte es eine Regierung, die so durchgreifen kann wie die chinesische. Aber vieles ist möglich, Indien hat wichtige Reformen gemacht, sich dem Handel geöffnet, lässt Kapital ins Land und profitiert derzeit auch vom niedrigen Ölpreis. Es gibt auch kaum Konflikte. Die Reformen von Präsident Modi könnten einen zusätzlichen Schub bedeuten, es soll etwa ein nationales Steuersystem geschaffen werden. Derzeit ist der Handel im Land wegen unterschiedlicher Steuern in den einzelnen Regionen noch sehr kompliziert. (Andreas Sator, 19.11.2015)