Die Ortschaft heißt Lugaqweni, und das tote Pferd liegt mitten auf der Straße. Nur eine Notbremsung verhindert, dass ich mit dem Mietwagen in den bereits aufgeblähten Kadaver krache. Ich steige aus und frage Passanten, was passiert sei. Aber die Leute zucken bloß mit den Schultern und gehen weiter. Ihnen scheint es egal zu sein, dass in ihrem Dorf mitten auf der Straße ein Pferd liegt.
Während unseres viermonatigen Aufenthalts in Südafrika haben wir überfahrene Hunde, Ziegen, Stachelschweine, Katzen, Affen und Schafe gesehen, aber ein totes Pferd ist dann doch etwas Neues. Also mache ich für meine Sammlung "Road Kill" ein paar Fotos, bevor wir nach Port St. Johns weiterfahren. Im Reiseführer wird die R 61 zwar als gut ausgebaute Straße bezeichnet, dass man wegen der vielen Tiere und der zahllosen Schlaglöcher aber höllisch aufpassen muss, wird nicht erwähnt. Trotzdem erreichen wir wohlbehalten Port St. Johns, den Ausgangspunkt unserer fünftägigen Wanderung entlang der Wild Coast.
Umgeben von tropischen Wäldern liegt Port St. Johns an der Mündung des Umzimvubu-River in den Indischen Ozean. Umzimvubu heißt auf Xhosa Flusspferd, obwohl es hier schon längst keine Flusspferde mehr gibt. Dafür gibt es an den Stränden immer wieder Hai-Alarm. Gewarnt wird hier aber nicht nur vor Haien, sondern auch vor Kriminellen. "High Criminal Area" steht auf einem verwitterten Schild vor einer Brücke, die zum Second Beach führt. Die jungen Leute, die hier herumhängen, kiffen entweder oder trinken Bier, sehr kriminell sehen sie jedenfalls nicht aus.
Narben und Riten
Am nächsten Tag treffen wir am frühen Morgen Sebenzile "Jimmy" Selani und Sneliziwi "Sne" Ndabeni. Jimmy ist der Organisator der Wanderung, und Sne wird in den nächsten fünf Tagen unser Guide sein. Jimmy und Sne gehören der Volksgruppe der Mpondo an, die im ehemaligen Homeland Transkei gemeinsam mit anderen Ethnien leben, so zum Beispiel den Thembu, deren bekanntester Angehöriger Nelson Mandela war. Die Narben in Jimmys Gesicht stammen von den Initiationsriten, denen sich junge Männer und Frauen immer noch unterziehen, wenn auch in abgeschwächter Form. Sne ist 21 und hat die Beschneidungszeremonie schon hinter sich, aber Narben sucht man in seinem Gesicht vergeblich.
Jimmy Selani gibt uns eine kurze Einführung. "Erstens: Fast alle Schlangen sind tödlich giftig. Zweitens: Füttert keine Hunde, sonst folgen sie euch bis zur Coffee Bay. Drittens: Gebt Kindern weder Geld noch Süßigkeiten." Dass wir in den Dörfern der Xhosa in Rundhütten übernachten werden und dort Frühstück und Abendessen bekommen, wussten wir bereits. Dass es meist weder Strom noch Fließwasser gibt, auch. Also verabschieden wir uns von Jimmy und marschieren los. Wir, das sind meine Lebensgefährtin Michaela, Sne und ich. Sne wirft einen prüfenden Blick zum Himmel und meint, dass wir in den nächsten Tagen Glück mit dem Wetter haben werden.
Wir durchqueren das Silaka Nature Reserve, und ich halte anfangs noch Ausschau nach Schlangen, lasse es aber bald sein, weil der Tropenwald hier so dicht ist, dass man eine Schlange ohnehin nicht sehen würde. Kaum verlassen wir das Naturreservat, haben wir einen traumhaften Ausblick auf die menschenleeren Strände und die umliegenden Hügel. Erst beim Umngazi River Bungalow Resort begegnen wir einigen Touristen.
Im Kanu knien
Wir gehen die Küste entlang und warten am Mngazana River auf das Motorboot, das uns ans andere Ufer bringen soll. Ausgemacht war, dass das Boot um 15 Uhr kommt. Aber es kommt nicht. Nach mehreren vergeblichen Versuchen erreicht Sne endlich den Bootsbesitzer, der aber vorgibt, kein Benzin zu haben. Zufällig kommt ein Kanufahrer vorbei, der uns einzeln über den Fluss paddelt, wobei wir im vorderen Bereich des Kanus knien müssen, um nicht ins Wasser zu fallen.
Um 18 Uhr erreichen wir Madakeni, wo Michaela und mir am Hof unserer Gastgeber ein Rondavel, eines der typischen Rundhäuser, zugewiesen wird. Auf dem Boden liegen zwei Matratzen mit dünnen Decken. Leider erfahren wir erst jetzt, dass es in keinem unserer Quartiere Handtücher gibt. Ich opfere ein T-Shirt, das mir in den nächsten Tagen als Handtuch dienen wird. Aber immerhin haben wir elektrisches Licht, damit ist es ab morgen vorbei, sagt Sne. Zum Abendessen gibt es Huhn mit Reis, Kartoffeln und Spinat.
Zum Haus gehören die obligaten drei Hunde sowie ein paar Hühner, Ziegen und Kühe, die allesamt frei herumlaufen. In den Xhosa-Dörfern gibt es keine Weidezäune, das heißt, dass die Tiere nach Futter suchen können, wo immer sie möchten. Das heißt aber auch, dass überall Kuhfladen, Hundekacke und Ziegendreck herumliegen. Nach einer kurzen Gewöhnungsphase haben wir uns damit ebenso abgefunden wie mit der Tatsache, dass der Müll im Garten einfach in ein großes Loch geworfen wird.
Böse Geister abwehren
Nach dem Frühstück führt unser Weg ins Landesinnere, wo wir an Dörfern mit den typischen Rundhäusern vorbeikommen. Die meisten sind aus Lehm gebaut und mit Stroh gedeckt. Ich frage Sne, was es mit den merkwürdigen Objekten auf den Dachspitzen auf sich hat. "Sie dienen der Abwehr böser Geister", sagt er. Am Nachmittag begegnen wir dutzenden Schülerinnen und Schülern in ihren Uniformen, die auf dem Weg nach Hause sind. Autos sieht man kaum.
Wir durchqueren Wälder, gehen an kleinen Bächen entlang, überqueren Hügel, und obwohl die Wege nur selten markiert sind, weiß Sne ganz genau, wo es langgeht. Einmal bleibt er stehen und deutet auf ein Feld, das versteckt in einer Talsenke liegt. Er fragt uns, ob wir wüssten, was für eine Pflanze das sei. Wir verneinen. "Das ist Marihuana", sagt er. "Ist das legal hier?" "Nein, aber kein Mensch kümmert sich darum." In Mpande werden wir bereits erwartet. Da bis zum Abendessen noch etwas Zeit bleibt, gehe ich mit ein paar Buben angeln. Ich fange einen Zebrafisch und einen Oktopus, den sich die Kinder am offenen Feuer braten.
Salzlecken am Strand
Am nächsten Tag wandern wir zunächst an der Küste entlang, dann geht es durch tropische Wälder hinein ins Landesinnere, und irgendwann stehen wir am Fuß eines ziemlich hohen und vor allem steilen Hügels. Der Weg hinauf ist einigermaßen anstrengend, dafür haben wir von oben eine sensationelle Aussicht. Wir begegnen Kühen mit imposanten Hörnern, die Richtung Strand unterwegs sind, um dort ihren Salzbedarf zu decken. Zwischen Felsen stehen bunt gekleidete Frauen, die Muscheln sammeln. Ihre Kinder tauchen nach Langusten, obwohl diese gerade Schonzeit haben.
Plötzlich bleibt Sne stehen. Er zeigt auf einen Felsen neben dem Weg, auf dem sich eine ziemlich große Schlange sonnt. Ich schaffe es gerade noch, ein Foto von ihr zu machen, dann ist sie auch schon wieder weg. "Eine Cape Cobra", sagt Sne, "gut, dass es keine Puffotter war, die würde nämlich nicht so einfach verschwinden." Sne erzählt, dass sich einmal eine Schlange unter seinem Kopfpolster versteckt hat. "Aber sie war harmlos", sagt er lapidar.
Dass Sne mit Tieren gut umgehen kann, zeigt sich auch am Abend, als sich ein riesiger Frosch in unser Rondavel verirrt hat, der partout nicht mehr hinaus will. Sne holt einen Stock und spricht auf Xhosa so lange auf den Frosch ein, bis er sich schließlich fangen und hinaustragen lässt.
Unbezahlbar
Um fünf Uhr früh werden wir von bellenden Hunden, schreienden Eseln und krähenden Hähnen geweckt. Die Kinder sind bereits auf den Beinen, sie waschen sich im Hof in Eimern und bereiten sich auf den Schulbesuch vor. Sie haben entweder Kerzen angezündet oder leuchten mit Taschenlampen. Die Großmutter, die sich um die Kinder kümmert, bereitet auf offenem Feuer das Frühstück zu, das wir um sechs Uhr gemeinsam einnehmen. Ich frage Thandiwe, wie lange sie bis zu ihrer Schule braucht. Da sie nur Xhosa spricht, muss Sne übersetzen. "Eine Stunde", antwortet sie.
Und dann passiert etwas Unerwartetes: Um halb sieben taucht plötzlich eine Gruppe junger Mädchen auf, um für uns einen traditionellen Tanz aufzuführen. Das älteste Mädchen sitzt auf einem Plastikkübel, den es als Trommel benutzt, die anderen klatschen, singen und tanzen. Nach zehn Minuten ist die Aufführung beendet, und Thandiwe und ihre Freundinnen machen sich auf den Weg zur Schule. Ausnahmsweise ist Sne damit einverstanden, dass wir den Mädchen etwas Geld geben. Es ist nur eine kleine Geste, weil das, was wir während unserer fünftägigen Wanderung erlebt haben, mit Geld ohnehin nicht zu bezahlen ist. (Kurt Palm, RONDO, 20.11.2015)