Der Fischer Olai (Klaus Maria Brandauer, re.) wird von Intervallklängen beunruhigt: "Morgen und Abend" im Royal Opera House London.

Clive Barda

Nicht nur der Sänger Orpheus sucht den Weg in die Unterwelt. Vom Leben in das Reich des Todes, zu den Sterbenden und Verstorbenen führt das Musiktheater ja seit seinen Anfängen. Bei Friedrich Georg Haas' Morgen und Abend bildet dieser Ort des Todes sogar das Zentrum der Oper.

Einen genauen Zeitpunkt der Grenze, an der das Leben in den Tod überwechselt, legt Haas dabei allerdings nicht fest. Ob der alte Fischer Johannes noch lebt oder schon gestorben ist, bleibt in der Schwebe. Johannes steht – noch einmal? – von seinem Bett auf, kocht Kaffee, macht sich auf den Weg zum Meer und bildet sich dabei ein, auf einmal seine Frau und seinen Freund Peter, die doch alle schon lange verstorben sind, zu treffen, und plaudert mit ihnen lebhaft.

Auch seine Lieblingstochter Tochter Signe geht, ohne ihn zu bemerken, an ihm vorüber. Sie sehen sich nicht, aber sie spüren einander. Schließlich "verschwinden die Wörter", heißt es in Jon Fosses Roman Morgon og Kveld. Bleiben nur mehr Klang und Musik übrig? Die Zusammenarbeit mit dem norwegischen Schriftsteller hatte sich für Haas bereits bei der 2008 in Paris uraufgeführten Oper Melancholia bewährt. Auch damals hatte der norwegische Literaturnobelpreiskandidat selbst seinen Roman zum Libretto umgestaltet.

Gebärschreie eines Fischers

Was aus der Binnenperspektive der Figuren erzählt wird, was die Figuren voller Erstaunen über sich selbst erleben, wird in der Oper zur großen, eindringlichen musikalischen Meditation. Gesungen wird bei Haas freilich erst nach langem, beinahe ermüdendem Warten, bis nämlich endlich die Hebamme (Sarah Wegener) die Geburt von Johannes dessen Vater, dem Fischer Olai, meldet. Denn der Sterbeszene wird, wie in Fosses Roman, das Warten auf die Geburt, die Ankunft von Johannes in der Welt, vorausgesetzt. Zunächst also Melodram. Klaus Maria Brandauer spricht auf Englisch den Monolog des wartendenden Fischers Olai monoton, dann plötzlich selbst fast in Gebärschreie ausbrechend. Die Gesangspartien sind in London in Deutsch gehalten, zumal Morgen und Abend eine Koproduktion des Royal Opera House mit der Deutschen Oper Berlin ist. Beide Sprachen sind also keine Originale, sondern Übersetzungen des norwegischen Librettos.

Fischer Olai wird, wie er von sich selbst erzählt, von einer seltsamen Ruhe und einem merkwürdigen Klang beunruhigt, doch ohrenbetäubende Paukenschläge, sirrende-schwirrende Klänge und sakral anmutende Chorgesänge, von weither klingend, beherrschen zunächst die Atmosphäre. So komplex in ihrer Zerlegung von Intervallen die Komposition auch ist, sie besticht oft durch einfache Klarheit und Schönheit und warme Emotionalität.

Besonders beeindruckt dabei Sarah Wegener – schon lange erfahren mit den Kompositionen von Haas und ihren geteilten Intervallen – in der Rolle der Lieblingstochter. Den sterbenden, liebenswerten Fischer Johannes spielt – recht jugendlich noch erscheinend – der weiche Bariton Christoph Pohl.

Morgen und Abend ist große Oper, doch auf der Bühne (Ausstattung: Richard Hudson) sieht man in hellem Grau lediglich nur einen Kahn, eine Holztür und ein paar Möbel. Die Inszenierung von Graham Vick hält sich minimalistisch zurück, und auch der naheliegenden Versuchung, Morgen und Abend mit mythologischem Ballast und Symbolen zu beschweren (etwa die Fahrt des Fischers Johannes mit dem Kahn als Hadesfahrt zu zeigen) oder als religiöse Legende zu bebildern, entzieht sich die Aufführung.

Geburt und Tod als Übergang

Mit nüchterner philosophischer Klarheit werden Geburt und Tod als Übergang vorgeführt: eine mystische Erfahrung, die die Klangwelten von Haas' Komposition sehr effektvoll vertieft. Das große Orchester der Königlichen Oper unter Michael Boder spielte durchaus lustvoll. Den Musikern wurden für das Finale, für das letzte "Übertreten der Schwelle" bei gleißendem Scheinwerferlicht, für das Publikum sogar Ohrenschützer angeraten.

Im April soll die Produktion von der Deutschen Oper Berlin ins Repertoire übernommen werden. (Bernhard Doppler aus London, 17.11.2015)