Die Cranberryfelder von Gary Garretson liegen auf der Halbinsel Cape Cod unweit von Boston.

Foto: Georges Desrues

Die amerikanische Cranberry unterscheidet sich deutlich von der europäischen Preiselbeere.

Foto: Georges Desrues

Noch vor wenigen Jahren wusste kaum jemand in Europa, was Cranberrys überhaupt sind, sagt Gary Garretson und steigt an einem herbstfarbenfrohen Oktobertag in seinen Pick-up. Doch inzwischen hat sich viel geändert. "Das liegt zum einen daran, dass auch die Europäer auf den Geschmack von unserem Saft gekommen sind, den sie wie wir gern pur trinken und noch lieber in Cocktails mischen", freut sich der Farmer mit der imposanten Statur und dem wuchtigen Seehundschnauzer im Gesicht.

Tatsächlich tauchten in den vergangenen Jahren auch in heimischen Bars immer öfter Getränke mit Cranberrysaft auf wie zum Beispiel der Sea Breeze, ein klassischer Cocktail aus der Zeit der Prohibition, bei dem der Saft der roten Beeren mit jenem von Grapefruits und mit Gin gemischt wird. Oder der Sex on the Beach, in den statt Grapefruitsaft Ananassaft kommt und zudem Melonen- und Ribisellikör. Doch der absolute Klassiker unter den Cranberrydrinks ist der Cape Codder, der neben dem trockenen Beerensaft ausschließlich Wodka und ein Stück Limette enthält.

Benannt ist er nach einer Halbinsel im Bundesstaat Massachusetts, auf der Gary Garretson Felder liegen. Sowohl die Erwähnung des Cocktails als auch der Halbinsel wecken bei vielen Amerikanern Sehnsüchte nach Sommerurlaub in der gediegenen Atmosphäre Neuenglands an der Ostküste der USA. Man denkt an hölzerne Veranden und Adirondack-Sessel, von denen aus man aufs Meer hinausschaut, gekleidet wie die jungen Kennedys in schick-legerer Yachtmode – in der Hand einen der erwähnten Drinks mit zum Setting passendem Namen.

Cranberrys dürfen zu Thanksgiving nicht fehlen.

Populäres Thanksgiving

Einen weiteren Grund für den wachsenden Erfolg der kleinen Beeren im Ausland sieht der Farmer in Thanksgiving, dem amerikanischen Erntedankfest, das alljährlich im November abgehalten wird und auch in Europa immer populärer wird. "Zu dem Fest gehören Cranberrys mindestens genauso wie der Truthahnbraten, das Maisbrot und die Süßkartoffeltorte", sagt Garretson.

So will auch die Legende, dass es einst die Indianer vom lokalen Stamm der Algonquin gewesen sind, die den Pilgrims, den ersten europäischen Siedlern Amerikas, beigestanden haben, als der erste Winter in der Neuen Welt verfrüht einbrach und die Gründungsväter und -mütter der USA zu hungern drohten. "Die Algonquin haben ihnen gezeigt, welche Pflanzen und Früchte der neuen Heimat sie essen konnten, darunter auch die wildwachsenden Cranberrys", erzählt Garretson.

Ob das geschichtlich belegbar ist, könne er freilich nicht sagen, fährt der Farmer fort. "Aber was mit Sicherheit stimmt, ist, dass die Indianer die Beeren schon seit vielen Jahrhunderten aßen, sie zudem als Heilpflanze nutzten und als Farbstofflieferant." Und bewiesen sei außerdem, dass Cranberrys schon sehr früh zum integrativen Teil der für die USA so symbolträchtigen und bedeutenden Erntedankmahlzeit wurden.

Später dienten sie auf den Schiffen der einst an diesen Küsten florierenden Walfangflotte als Vitamin-C-Lieferant und schützten die Besatzungen auf ihren langen Reisen vor Skorbut. Zu der Zeit haben auch Garretsons Vorfahren damit begonnen, die kleinen Stauden hier auszupflanzen und von ihrer Aufzucht zu leben, sagt der Cranberryfarmer in vierter Generation, als er den Pick-up vor einem künstlichen Teich parkt, in dem gerade geerntet wird. "Nein, die Stauden wachsen nicht wie Reis unter Wasser", betont Garretson, "die Felder werden nur geflutet, um die Ernte zu erleichtern."

Purpurne Inseln

Wenn sie dann unter Wasser stehen, schüttelt eine Erntemaschine die Früchte von den Pflanzen, die an die Wasseroberfläche treiben und sich leicht einsammeln und herauspumpen lassen. So entsteht der Eindruck von purpurnen, schwimmenden Inseln inmitten der tiefblauen Seen und herbstlichen Farbenpracht des Indian Summers. Das sieht zwar toll aus, ist aber nicht die schonendste Art, um an die Früchte zu gelangen, da sie sowohl durch die Maschine als auch durch das Herauspumpen beschädigt werden können. "Das ist richtig, spielt aber in diesem Fall keine Rolle, weil die Beeren entweder zu Saft verarbeitet oder aber entwässert und als Trockenbeeren verwertet werden", beteuert Garretson. Schonender ist eine zweite, aufwendigere Form der Ernte, die sogenannte Trockenernte, die ganz ohne Wasser auskommt. Sie wird allerdings nur für einen geringen, wenn auch wachsenden Anteil von Beeren angewandt, die frisch oder tiefgefroren in der Küche verarbeitet werden.

Um die Ernte zu erleichtern, werden die Felder geflutet. Eine Erntemaschine schüttelt die Früchte von den Pflanzen.
Foto: Georges Desrues

"Bekanntlich haben wir Amerikaner einen ausgeprägten Hang zu Süßem", sagt Koch Michael Brandson, der in der nahen Großstadt Boston im Restaurant Radius arbeitet. "Den meisten von uns ist der Geschmack der Cranberrys viel zu herb, ja zu sauer. Deswegen bleibt von der Sauce beim Thanksgiving-Essen auch oft etwas übrig."

Keine Preiselbeere

Tatsächlich unterscheidet sich die auf Deutsch Großfrüchtige Moosbeere oder Kranbeere genannte Frucht deutlich von der europäischen Preiselbeere und übertrifft sie an Säure und Adstringenz, also am rauen und pelzigen Mundgefühl, das sie verursacht. Folglich läge es auf der Hand, sie zu süßen. Genau das will Brandson vermeiden. "Ich finde, dass sie am interessantesten schmeckt, wenn sie durch Zugabe von Fett gezähmt wird. Etwa indem man sie mit zerkleinertem Fleisch von Schweinerippen zu einer dicken Sauce einkocht. Oder sie mit Enten- oder Gänseschmalz mit Zwiebeln, Rosmarin und Salbei zu einem Relish verarbeitet", sagt der Koch. Beides jedenfalls sind ideale Beilagen, um den festlichen, aber für seine Trockenheit gefürchteten Truthahn zu begleiten. (Georges Desrues, RONDO Feinkost, 22.11.2015)