Wien – Dass der Mensch nie mit dem zufrieden ist, was er hat, treibt Wachstum und Fortschritt an, sagt der tschechische Ökonom Tomáš Sedláček im Interview mit dem STANDARD. Solange das so sei, müssten wir uns aber auch damit abfinden, nie zufrieden zu sein. Sedláček (38) ist Chefökonom der größten tschechischen Bank ČSOB. Mit seinem Buch "Die Ökonomie von Gut und Böse" wurde er 2012 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Jetzt legt er mit "Lilith und die Dämonen des Kapitals. Die Ökonomie auf Freuds Couch" (Hanser-Verlag), das er mit dem Journalisten Oliver Tanzer geschrieben hat, nach.

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STANDARD: Sie lieben Filmzitate. Ganz besonders scheint Ihnen dieses von Tyler Durden aus "Fight Club" zuzusprechen: "Wir arbeiten in Jobs, die wir hassen, nur damit wir Scheiße kaufen können, die wir nicht brauchen." Warum?

Sedláček: Diesen Fluch gibt es schon in der Bibel, im Garten Eden. Eva wird mit dem Verlangen verflucht. Aber sie kann es nicht kontrollieren, es kontrolliert sie. Adam ereilt der Fluch des Angebots, du wirst arbeiten, aber selbst mit der Technologie des 21. Jahrhunderts wird deine Produktion nicht ausreichen, um all deine Wünsche zu erfüllen. Das ist ein anderer Weg, um zu sagen, was Tyler Durden im Film gesagt hat.

STANDARD: Und was sagt uns das?

Sedláček: Weil wir nicht genug haben können, arbeiten wir zu viel. Wir wollen immer mehr. Unzufriedenheit mit dem, was wir haben, gilt uns als Motor der Wirtschaft, des Lebens, des Fortschritts. Es ist, was uns vorantreibt. Das ist okay. Aber dann dürfen wir uns nicht beschweren, wenn wir unzufrieden sind. Man kann nur das eine oder das andere wählen. Nehmen Sie die alten Griechen her: Wenn du mehr gewünscht hast, als du hast, würde dir der Hedonist sagen, habe mehr. Der Stoiker würde sagen, wünsche dir weniger, dann hast du so viel, wie du willst.

STANDARD: Sie kritisieren unsere Ausrichtung auf Konsum und Wachstum um jeden Preis.

Sedláček: Ich bin kein Wachstumskritiker per se, genauso wenig wie ich ein Kritiker von gutem Wetter bin. Aber ich glaube, es ist keine gute Idee, sein Leben darauf auszurichten, dass es jeden Tag gutes Wetter gibt. Das ist ein Rezept, das zum Desaster führen muss. Es ist naiv, zu glauben, dass die Wirtschaft immer wächst. Ich frage meine Ökonomenfreunde immer: Woher habt ihr das? Steht es in der Bibel? In deinen Modellen?

STANDARD: Sie könnten es aus der Geschichte der vergangenen 200 Jahre haben.

Sedláček: Selbst wenn die Sonne 60 Tage lang scheint, heißt es nicht, dass es morgen nicht regnet. Im Gegenteil! Je länger die Sonne scheint, desto wahrscheinlicher wird es sogar, dass sich das Wetter umkehrt. Dieser Wachstumsglaube ist romantisch naiv. Natürlich kann die Ökonomie auch stillstehen, sie hat es jahrhundertelang getan. Ein Sozialsystem mit der Annahme zu bauen, dass die Wirtschaft jedes Jahr um zwei Prozent wächst, ist heillos naiv. Als Beispiel die USA: Vor ein paar Jahren hatten sie zwei Prozent Wachstum, das Defizit betrug sieben Prozent. Alle haben applaudiert. Warum? Wir haben gerade sieben Prozent der Wirtschaftsleistung ausgegeben, um zwei Prozent Wachstum zu erreichen.

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STANDARD: In Österreich haben wir seit ein paar Jahren kaum Wirtschaftswachstum mehr. Viele Menschen verlieren deshalb ihre Jobs.

Sedláček: Wenn man kein Wachstum hat, wird alles schwieriger. Aber man kann auch Jobs ohne Wachstum schaffen. Man könnte auch sagen, eure früheren Arbeitslosenraten waren künstlich niedrig. Das Wachstum der Vergangenheit ist durch Staatsschulden künstlich aufgebläht. Unsere Gesellschaft ist das Gegenteil von Dagobert Duck. Er gibt sich nach außen hin arm, ist aber sehr reich. Wir wirken reich, sind aber arm.

STANDARD: Das müssen Sie mir erklären.

Sedláček: Der Staat ist nicht nur arm, er ist verschuldet. Der große Teil des Vermögens hier in Österreich und überall sonst im Westen besteht aus Geld, das wir uns aus der Zukunft gesaugt haben. Das nennt man Staatsschulden. In der Bibel gibt es den Traum des Pharaos von sieben fetten und sieben mageren Kühen. Josef deutete das als eine Art ökonomische Vorhersage, es sollte auf Jahre des Überflusses eine Hungersnot folgen. Wenn man aber spare, dann könne man die Zeit überstehen. Das ist heute außerhalb unserer Vorstellungskraft.

STANDARD: Wir haben zwar hohe Staatsschulden, aber das private und öffentliche Vermögen ist doch deutlich höher.

Sedláček: Ein Teil des Vermögens sind aber Schulden. Das ist das Problem mit Geld. Es ist an zwei Orten gleichzeitig. Wir denken, wir haben Ersparnisse auf der Bank, aber das Geld ist nicht wirklich dort. Es wird woanders genutzt, etwa von der Regierung.

STANDARD: Wir besitzen aber nicht nur Sparbücher. Wir haben Häuser, Autos, Schulen, Straßen.

Sedláček: Ein Fünftel davon haben wir, weil wir Schulden haben. Die Menschen sind so lange glücklich mit Schulden, bis es sie zerstört. Schulden sind ja auch okay, genau wie ein Feuer okay ist. Hey, ich arbeite für eine Bank. Aber im Moment, wo das Feuer außer Kontrolle gerät, wird es gefährlich. Müsste Österreich all seine Schulden zurückzahlen, die Gesellschaft würde merken, wie arm sie ist. Schauen Sie nach Griechenland. Schulden sind okay, solange man nicht ihr Sklave wird.

STANDARD: Sie sagen, wir sind in Wahrheit ärmer, als es scheint. Was ist die Konsequenz daraus? Muss alles zusammenbrechen?

Sedláček: In der Krise hatten wir Glück. Es kollabierten nur kleine Länder: Griechenland, Irland, Zypern. Wir konnten sie retten, ohne am System zu kratzen. Wir haben das alte Hemd geflickt, kein neues gekauft. Wenn eine größere Ökonomie kollabiert, muss die Lösung aber systematisch sein.

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STANDARD: Wie könnte ein besseres System aussehen?

Sedláček: Vor ein paar Generationen haben wir uns entschieden, dass es keine gute Idee ist, Politiker Geld drucken zu lassen. Unabhängige Zentralbanken wurden geschaffen. Politiker können aber Schulden machen. Das sollten wir ihnen nicht erlauben. Die Ökonomie hat die Tendenz, sich auszubalancieren. Fügt man die Politik dem System hinzu, dann wird das Auf und Ab verstärkt, und die Probleme beginnen.

STANDARD: In den USA lösten hohe private Schulden, nicht die des Staats, gemeinsam mit dem privaten Immobilien- und Finanzsektor die Krise aus.

Sedláček: Ja, aber das Problem war, dass wir keine Reserven hatten, um die Probleme zu lösen. Der Staat sollte für diese Krisen Ersparnisse haben. Wenn es Probleme gibt, gibt er dieses Geld aus.

STANDARD: Also Ihre systematische Lösung ist so etwas wie die schon existente Schuldenbremse der EU, nur ein bisschen strenger.

Sedláček: Ja, in meiner extremen Meinung sollte sich der Staat gar kein Geld leihen können. Es sollte durch eine unabhängige Institution passieren. Jetzt ist es so, als könnte ein Drogensüchtiger sich seine eigenen Drogen kochen.

STANDARD: Sie gelten als harscher Kritiker der vorherrschenden Ökonomie. Auch deshalb hatte Ihr Buch "Die Ökonomie von Gut und Böse" wohl so großen Erfolg. Geändert hat sich bislang wenig, oder?

Sedláček: Wir reden zumindest darüber. Alles startet einmal dadurch, dass darüber gesprochen wird. Die grüne Bewegung war vor 20 Jahren nicht vorstellbar, heute ist sie eine ernstzunehmende politische, wirtschaftliche, aber auch private Kraft. Wir waschen unsere Autos nicht mehr einfach im Fluss. Fundamental hat sich aber nichts geändert.

STANDARD: In Ihrem neuen Buch legen Sie die Ökonomie auf "Freuds Couch". Was lehrt uns die Denkweise Freuds über die Ökonomie?

Sedláček: Es gibt starke psychologische Kräfte in der Ökonomie, die der Mainstream nicht sieht. Man kann mit mathematischen Methoden Dinge erkennen, vieles aber auch nicht. Eine Volkswirtschaft ist etwa nicht depressiv, sondern manisch-depressiv. Es geht auf und ab. Wir wissen, dass die Manie genauso gefährlich ist wie die Depression. Jeder Patient genießt die manischen Perioden, wir konsumieren alles, was wir können.

STANDARD: Sie schreiben auch von weiteren Störungen.

Sedláček: Genau. Eine andere ist etwa die Realitätsverzerrung. Wir haben Modelle, die wir aber nicht als Modelle sehen, weil wir ihnen glauben. Das führt dazu, dass wir einen ganz bedeutenden Teil weglassen, nämlich die Psyche des Menschen. (Andreas Sator, 12.11.2015)