Natürlich weiß ich, dass ich privilegiert bin. Aber: Sollte ich deshalb die Gunst der Stunde nicht nutzen und an November-Sommertagen wie denen des vergangenen Wochenendes nur deshalb KEINE Laufreportage machen, weil ich für eine ganz andere Geschichte für ein ganz anderes Medium im Rahmen einer Pressereise zwei Tage in einem pipifeinen Wellnesshotel in einer noch pipifeineren Gegend einquartiert bin? Eben.

Foto: Thomas Rottenberg

Es war nämlich so: Die Falkensteiner-Gruppe hatte Journalisten eingeladen, um ihnen ihr Haus in Bad Waltersdorf als "Adults only"-Hotel zu präsentieren. Dass parallel dazu Bilderbuch-Altweibersommerwetter sein würde, war nicht vorherzusehen gewesen. Mitte November kann es auch garstig kalt sein. Windig, feucht. Und neblig. Aber auch dann hätte ich eine Runde gedreht. Eine kürzere vermutlich. Mit weniger Fotostops unterwegs. Weniger "Wow"-Momenten – und ohne den Frühstücksespresso auf der Hotelterrasse.

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Ich kann nüchtern ganz gut laufen. Das kommt auf Distanz und Tempo an. Geplant hatte ich einen lockeren Lauf über etwa eineinviertel Stunden. In Regionen wie Bad Waltersdorf lässt sich das gut planen. Nicht nur hier: Laufroutenpläne gehören mittlerweile in den meisten Hotels, in denen ich in den letzten Jahren abgestiegen bin, zur Basisausrüstung der Rezeption. Man muss nur danach fragen.

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Ich wollte früh raus. Aber: So wirklich früh war mein "Früh raus" wohl nicht: Ja, die Sonne stand noch tief. Ja, mein Schatten reichte noch – fast – bis ins übernächste Tal. Ja, beim Hotel-Frühstücksbuffet waren sie noch am Aufbauen, und da war außer mir noch weit und breit kein Gast zu sehen.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber im Ort sah das anders aus: Dort war der Aufbau für den Floh- oder Samstagsmarkt fast abgeschlossen. Und so, wie ich mich fragte, wer heute noch all das schwere und schwerfällige Jagd- und Bundesheer- aus dem vorigen Jahrhundert oder beim Hinschauen auseinanderfallende Kinderzeugs kauft, dürften sich manche Standler gefragt haben, welcher Tourist da von der senilen Bettflucht geritten wurde.

Foto: Thomas Rottenberg

Auch wenn ich mich bei den Locals jetzt unbeliebt mache: Als Ort ist Bad Waltersdorf nicht unbedingt der "Burner". Kreuzung, Kirche, Holzbrücken. That's it. Deswegen kommt niemand hierher. Die Thermenhotels liegen auf den Hängen ringsum. Der Golfplatz auch.

Foto: Thomas Rottenberg

Als ich noch vor acht an der öffentlichen Therme vorbeilief, war der Parkplatz zu einem Drittel gefüllt. Und auch wenn man es auf diesem Bild nicht sieht: Auch die ersten Liegestuhltapezierer hatten ihr Frühwerk schon vollbracht.

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Verstehen Sie mich nicht falsch: Auch ich suhle mich gerne im warmen Wasser. Pendle zwischen Saunen und Dampfbädern. Nur: So wirklich Spaß macht mir das nur, wenn das Wetter passt. Im Idealfall fallen mir dicke Schneeflocken auf den Kopf, während ich im Whirpool sitze. Doch an einem Tag wie dem, der hier gerade anbrach? Da will ich raus. Aber egal: Regel eins – jedem seins.

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Ich hatte mir die Karte eingeprägt. Obwohl es in dieser und anderen Wellnessregionen ausreicht, am Straßen- oder Wegesrand die Augen aufzumachen: Das Angebot an Spazier-, Lauf-, Wander- und Radwegvorschlägen ist beinahe unübersichtlich. Aber lieber zu viel als zu wenig Info. Vielleicht motivieren ja Piktogramme und Anweisungen zu Lauf-ABC und Übungen auch Spaziergänger, mehr zu tun als bloß zu promenieren.

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Obwohl ich Spazieren keinesfalls und niemandem schlechtreden will. Auch wenn ich über Nordic Walker blödle und mich mitunter insgeheim frage, wieso manche Menschen ein paar Skistöcke so wie Linus bei den Peanuts seine Kuscheldecke hinter sich herziehen, bitte ich darum, mich zu ermahnen, wenn ich derlei gegenüber nordischen Spaziergängern nur andeuten sollte: Jede Form der Bewegung ist besser und gesünder als Herumsitzen.

Wer bin ich, mich über andere Arten des Draußenseins oder Sporttreibens zu erheben? Weiß ich, wie ich in zehn oder 15 Jahren beinander sein werde – und ob ich mich da nicht glücklich schätzen darf, wenn ich überhaupt "walken" kann?

Foto: Thomas Rottenberg

Einstweilen geht Laufen noch ganz gut. Trotz diverser Wehwechen. Trotz diverser Motivationstiefs, gerade nach "großen" Läufen: Jetzt, im Vorfeld der Skisaison und im "Loch" nach den Läufen, auf die ich hintrainiert habe, reagieren mein Körper und mein Kopf ganz normal und schalten auf Pause.

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Das löst einen Teufelskreis aus: Die Lust auf große Trainingsumfänge oder intensive Einheiten geht gegen null. Der Appetit und die Freude am Essen aber nicht – denn daran, viel "Brennstoff" zu bekommen, hat sich mein Körper in den letzten Monaten ja gewöhnt. Jetzt sagt er: "Super, endlich kann ich Reserven anlegen – es wird eh Winter."

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Diese "Reserven" spüre ich, sobald ich mich (doch) in Bewegung setze: Weil ich mich blad und schwerfällig fühle, macht Sport gleich viel weniger Spaß. Also kommt da von jeder trägen Faser die Rückmeldung, es bleiben zu lassen: Cui bono, Alter?

Darum werde ich nie über Menschen spotten, die sich vom Couchpotato-Dasein aufraffen und "nur" fünf, zehn oder fünfzehn Minuten Sport machen: Trägheitsgesetze gelten nicht nur in der Physik, sondern auch in der Psyche. Sich vom Stillstand zu befreien erfordert unendlich viel Energie.

Foto: Thomas Rottenberg

Auch deshalb weiß ich, dass ich privilegiert bin: Anderswo sieht es immer anders aus – und Neugierde ist ein guter Motor. Das macht es leichter, die eigene Trägheit zu überwinden. Bei jedem Wetter. Erst recht an Tagen wie diesen.

Foto: Thomas Rottenberg

Die Belohnung dafür ist neben dem Weg. Etwa wenn ein kleiner Waldweg vom – für das Komfortzonen-Mehrheitspublikum zu meinem Bedauern fast durchgehend asphaltierten – markierten Spazierweg abzweigt. Man Route Route sein lässt. Und plötzlich an solchen Stellen steht und staunt. Keine 50 Meter neben dem "offiziellen" Weg.

Foto: Thomas Rottenberg

Das Risiko, mich mit solchen Abzweigereien zu verlaufen, nehme ich gerne auf mich. Erstaunlicherweise sind es aber nie solche Varianten, die mich den Weg verlieren lassen: In diesen Fällen denke ich nämlich mit.

Wohingegen das sich blind auf Markierungen Verlassen in die Hose gehen kann: Ich hatte mich ja für den "Keltischen Baumkreisweg" entschieden. Der ist wie alle Wege hier deppensicher durchmarkiert: Gefühlt steht alle 50 Meter eine Tafel. Das Ergebnis: Irgendwann verlässt man sich drauf und stellt das Mitdenken ein.

Foto: Thomas Rottenberg

Das geht so lange gut, bis dann an einer Kreuzung statt der drei überbordend großen Tafeln nur ein kleines Schildchen im Normalformat steht. Und man dieses eine Schild übersieht. Etwa weil man gerade anderswohin fotografiert.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich bin gut in dieser Disziplin des Abzweigungen-Verfehlens: Ich habe es sogar geschafft, beim Zoolauf das Ziel zu verfehlen – und lief deshalb drei statt zwei Runden.

Also dachte ich, als ich mich plötzlich auf der Landstraße Richtung Burgenland wiederfand und weder Streckenführung noch Höhenprofil im Entferntesten mit dem Kartenbild in meinem Kopf zusammenpassten: "Mea culpa, mea maxima culpa" – bis ich den anderen Läufer traf.

Foto: Thomas Rottenberg

Der Mann in Schwarz war schon eine Weile hinter mir gelaufen. Etwa in meinem Tempo. Als ich dann für Fotos abgezweigt war, hatte er mich überholt und war seitdem mit ziemlich konstantem Abstand ein paar hundert Meter vor mir unterwegs gewesen. Jetzt wurde er langsamer. Blieb stehen. Sah sich suchend um. Ich schloss auf – und fragte ihn, ob er mir sagen könne, wo meine Laufroute sei.

Er lachte: Er war einer anderen Markierung gefolgt – hatte aber ebenso wie ich eine Abzweigung übersehen: "Ich heiße Martin."

Foto: Thomas Rottenberg

Wir liefen gemeinsam weiter. Und als klar war, dass wir wirklich falsch waren, zurück. Martin und ich waren zwar unterschiedlichen Strecken gefolgt, hatten aber an exakt derselben Stelle exakt dieselbe Abzweigung übersehen.

Die Tafeln waren hinter einem Marterl – ähnlich diesem – nicht versteckt, aber deutlich weniger prominent platziert als alle anderen: Wenn zwei Leute an der gleichen Stelle den gleichen Fehler machen, kann es nicht ausschließlich an meiner individuellen Blödheit liegen.

Foto: Thomas Rottenberg

Martin heißt mit vollem Namen Martin Kronsteiner. Er ist Psychotherapeut und Personal Coach. Dementsprechend fit ist er. Und so läuft er auch: technisch supersauber, locker und stark. Mein Glück war, dass er mehr der Krafttrainierer ist – und Muskelmasse auf der Langstrecke dann eben doch irgendwann ins, ähem, Gewicht zu fallen beginnt: Ich konnte mithalten. Knapp, aber doch. (Martin ist auch ein höflicher Läufer und ließ mich nicht einfach stehen.)

Foto: Thomas Rottenberg

Dank unseres kleinen Umwegs hatten wir beide deutlich mehr Kilometer in den Beinen als geplant. Wir waren beide ohne Frühstück aufgebrochen – und hatten beide weder zu essen noch zu trinken dabei. Auch in einer gut erschlossenen und "ungefährlichen", aber eben nicht vertrauten Gegend ist das mäßig schlau.

Unsere Handys lagen, eh klar, in unseren Hotelzimmern. Sowohl Martin als auch ich hatten unseren (weiter schlafenden) Freundinnen beim Loslaufen zugeflüstert, dass wir spätestens um 9 Uhr zurück sein würden. Als wir vor Martins Hotel ankamen, war es fast halb zehn.

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Ich war hungrig. Richtig hungrig. Meine Freundin, wusste ich, würde sich zwar keine Sorgen machen, aber doch – auch mit dem Frühstückengehen – auf mich warten. Und auch wenn meine Lust auf meine letzten dreieinhalb Kilometer plus einer kleinen Hügelwertung mittlerweile enden wollend war, gab ich noch ein letztes Mal Gas: Man lässt Menschen, die man mag, nämlich nicht unnötig warten. Schon gar nicht aufs Frühstück.

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Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Der Aufenthalt im Falkensteiner-Resort Bad Waltersdorf war eine Einladung der Hotelkette. (Thomas Rottenberg, 12.11.2015)

Foto: Screenshot