Stefaniya Ptashnyk: Der Krieg im Donbass ist auch in Lemberg allgegenwärtig.

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STANDARD: Welche Rolle spielt die ukrainische Sprache für das Selbstbewusstsein des Staates?

Ptashnyk: Die Idee "Ein Staat, eine Nation", die ja aus dem 19. Jahrhundert stammt, trifft heute auf die wenigsten Länder zu. In der Ukraine bekennt sich die Mehrheit zum Ukrainischen als Muttersprache, aber es lebt auch eine große russische Minderheit im Land. Sie gehört genauso dazu wie die Polen, die Ungarn und andere. Die Liste ist ziemlich lang.

STANDARD: Aber sind die Begriffe "Minderheit" und "Sprachgebrauch" überhaupt deckungsgleich?

Ptashnyk: Nein, die Frage nach der sprachlichen Realität ist natürlich eine ganz andere. Im Grunde sind wir ja fast alle mehrsprachig, schon allein durch den Schulunterricht. Der sprachliche Alltag entspricht auch in anderen Ländern nicht unbedingt der offiziellen Statistik. In der Ukraine gibt es etwa Regionen, wo privat eher Ukrainisch gesprochen wird, im öffentlichen Leben aber eher Russisch.

STANDARD: Wo ungefähr verlaufen diese Sprachgrenzen?

Ptashnyk: Die heutige Ukraine hat eine komplexe Vorgeschichte. Während zum Beispiel der Westen zur Habsburgermonarchie gehörte und später, bis 1939, ein Teil Polens war, gehörte der Osten lange zum russischen Imperium und war länger als der Westen Teil der Sowjetunion. Natürlich prägt das das sprachliche Verhalten der Menschen. Auch auf der Krim, die erst 1954 zur Ukraine kam, wird meist Russisch gesprochen. Eine klare Grenze kann man aber nicht ziehen. In urbanen Zentren des Ostens etwa hört man meist Russisch auf der Straße, im Umland aber kann sich das ganz schnell ändern. Dort gibt es Dörfer, die einen sehr interessanten ukrainischen Dialekt bewahrt haben.

STANDARD: Wie würden Sie als Sprachwissenschafterin den Unterschied zwischen Ukrainisch und Russisch eigentlich beschreiben?

Ptashnyk: Ich vergleiche das häufig mit dem Verhältnis zwischen Deutsch und Niederländisch. Beide Sprachen sind eng miteinander verwandt, es gibt auch viele Gemeinsamkeiten in der Lexik. Aber man braucht nicht weit zu schauen, um Unterschiede zu finden. Zum Beispiel gibt es im Russischen sechs Fälle, im Ukrainischen sieben. Und es gibt sechs Buchstaben, die sich unterscheiden. Ukrainer haben in der Schule sehr viel Russisch mitbekommen, das war früher die Sprache, die allen vermittelt wurde. Ob aber ein Moskauer alles versteht, was die Leute in Lemberg sprechen, ist eine ganz andere Frage. Außerdem gibt es im Ukrainischen viele Dialekte. Was in Transkarpatien gesprochen wird, wird vielleicht wiederum in Lemberg nicht verstanden.

STANDARD: Spielte die sprachliche Identität bei der Annexion der Krim wirklich eine so große Rolle, wie oft behauptet wird?

Ptashnyk: Das war eine Annexion von außen, die aber in der Bevölkerung eine Grundlage vorfand – auch durch die Präsenz russischer Medien. Wenn Knopf Nummer eins das Fernsehprogramm aus Moskau ist, dann sorgt das schon für eine gewisse Verbundenheit.

STANDARD: Welche Versuche gab es, die Sprache im Ukraine-Konflikt politisch zu instrumentalisieren?

Ptashnyk: Zu Beginn des Konflikts hat das in den Diskursen eine große Rolle gespielt. Im Fernsehen etwa gab es Sendungen über Menschen in der Ostukraine, die Angst hatten, dass sie alle ihr Russisch aufgeben und Ukrainisch lernen müssen. Meist waren das geschürte Ängste, die nicht der Realität entsprachen. Die Sprache war nie der Kern des Konflikts und ist inzwischen auch kein Thema mehr.

STANDARD: Die Frage der Amtssprache hat aber die Gemüter eine Zeitlang ziemlich erhitzt.

Ptashnyk: 1996 wurde Ukrainisch in der Verfassung als Amtssprache festgeschrieben. Später wurden per Gesetz auch Minderheitensprachen regional anerkannt, doch bald nach Beginn der Maidan-Bewegung stand die Abschaffung dieses Gesetzes zur Debatte. Das war völlig unnötig, denn es schuf neue Ängste rund um das Thema Sprache. Selbst meine westukrainischen Freunde protestierten dagegen: Aus Solidarität mit den russischsprachigen Mitbürgern begannen sie, im Internet auf Russisch zu chatten. Im Kampf für Demokratisierung waren ja Angehörige aller Nationalitäten engagiert.

STANDARD: Sie selbst stammen aus der Westukraine. Ist die Gewalt im Osten dort sichtbar?

Ptashnyk: Ich bin häufig in Lemberg, wo meine Eltern leben. Der Krieg ist geografisch zwar weit entfernt, aber trotzdem omnipräsent – und zwar nicht nur in den Medien sondern auch im Alltag. Es gibt kaum eine Familie, die nicht einen Angehörigen an der Front hatte oder hat. Die jungen Männer werden ja unabhängig von ihrer Herkunft in die Armee eingezogen. Überall gibt es Sammelstellen, wo die Menschen warme Kleidung, Schlafsäcke oder Decken spenden – für die Soldaten, aber auch für die vielen Binnenflüchtlinge aus dem Osten. Ich finde, das ist ein schönes Zeichen dafür, wie der Zusammenhalt zwischen den angeblich so unterschiedlichen Teilen der Ukraine funktioniert und sogar noch verstärkt wird. (Gerald Schubert, 9.11.2015)