Bild nicht mehr verfügbar.

"Ägypten ist seit vielen Jahren unabhängig. Ursache für den Rückfall sind die Diktatoren, die wir hatten, nicht der Kolonialismus."

Foto: AP

Alla al-Aswani: Die wahren Künstler sind gegen die Diktatur.

Foto: M. Kirchgessner
cover: s. fischer

STANDARD: Ihr neuer Roman entstand im Vorfeld des Arabischen Frühlings. Um an der Revolution teilzunehmen, haben Sie die Arbeit an ihm unterbrochen. Wurde er von der Revolution beeinflusst?

Al-Aswani: Ich war glücklich, die Revolution zu erleben, während ich gerade diesen Roman schrieb. Denn es kommt in ihm eine Revolution vor. Die Diener des Automobilclubs revoltieren gegen den Kämmerer des Königs. Da hatte ich die Freude, an einer wirklichen Revolution teilnehmen zu können. Als ich wieder zu meinem Roman zurückkehrte, musste ich mir nichts ausdenken, sondern brauchte nur aufzuschreiben, was ich erlebt hatte.

STANDARD: Sie entwerfen in dem Roman ein Panorama der Kairoer Gesellschaft gegen Ende der britischen Herrschaft. Was hat Sie bewogen, sich gerade dieser historischen Zeit zuzuwenden?

Al-Aswani: Es ist für einen Autor eine Herausforderung, zu ergründen, was Menschsein zu unterschiedlichen Zeiten bedeutet. Daher war es für mich inspirierend, über das Ägypten der 40er-Jahre zu schreiben. Zugleich wirft mein Roman die Fragen auf, die sich heute stellen. Auch damals war klar, dass das alte Regime zusammenfallen würde. Alle Fragen richteten sich an die Zukunft: Genauso empfanden wir unsere Lage vor Beginn der Revolution.

STANDARD: "Willst du leugnen, dass die britische Besetzung zur Modernisierung Ägyptens beigetragen hat?", lassen Sie den Direktor des Automobilclubs sagen. Was bedeutete der Kolonialismus für Ägypten? Trug er zur Modernisierung bei, oder ist er eine Ursache für Probleme?

Al-Aswani: Ziel des Kolonialismus ist es, die Güter eines Landes zu rauben. Daher kann man ihn nicht als etwas Gutes betrachten. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass er in der Verfolgung seines Vorhabens, Ägypten zu bestehlen, auch einiges Positive vollbrachte. Ägypten war berühmt für seine Baumwolle, und die britischen Kolonialisten verkauften sie auf den internationalen Märkten. Für ihren Transport ließen sie Bahnstrecken errichten. Dadurch verfügte Ägypten früh über eine Eisenbahn. Die schreckliche Situation, in der sich die arabische Welt derzeit befindet, dem Kolonialismus anzulasten, wäre nicht fair. Wir sollten anderen nicht die Schuld geben für unsere Fehler. Ägypten ist seit vielen Jahren unabhängig. Ursache für den Rückfall sind die Diktatoren, die wir hatten.

STANDARD: Wie ist heute das Verhältnis zwischen Afrika und Europa? Schwingt da immer noch das einstige Herrschaftsverhältnis mit?

Al-Aswani: Solange es uns nicht gelingt, in unseren Ländern eine Demokratie durchzusetzen, werden wir keine gute Beziehung zum Westen erreichen. Das gilt für die arabischen und die afrikanischen Länder. Ein Diktator vertritt nicht die Interessen der Menschen des Landes, sondern nur seine eigenen und die der Eliten, die ihn stützen. Es ist ein Fehler westlicher Regierungen, sich gegenüber einem Diktator zu verhalten, als wäre er ein gewählter Präsident.

STANDARD: Ihre ersten Romane konnten nur in einem kleinen Privatverlag erscheinen. Wie steht es derzeit um die Zensur in Ägypten?

Al-Aswani: Eine offizielle Buchzensur hatten wir in Ägypten nicht. Praktisch gab es die 90er-Jahre hindurch doch eine. Denn die Regierung konnte Druck auf die Verlagshäuser ausüben. So wurde mir dreimal die Veröffentlichung meiner Romane verweigert. Ich musste den Druck finanzieren. Manchmal halfen Freunde. Erst 2002 durfte Der Jakubijân-Bau veröffentlicht werden. Gegenwärtig befindet sich die Publikationsfreiheit in Ägypten in einem schlechten Zustand. Sie ist mit noch größeren Einschränkungen belegt als unter Mubarak.

STANDARD: Wie gestaltet sich die literarische Szene? Sie haben in Kairo jahrelang einen Literatursalon veranstaltet.

Al-Aswani: Wir haben viele junge talentierte Schriftsteller. Unter denen, die ich vorgestellt habe, sind einige zu großen Namen aufgestiegen. Seit 1998 organisiere ich diese Seminare – ungeachtet der Schwierigkeiten. Leider tut sich in Ägypten immer noch eine Kluft auf zwischen der reichhaltigen Kulturszene und dem jämmerlichen Auftritt, den der Kulturminister gibt. Das war unter Mubarak so und ist jetzt nicht anders. Unterstützung erhalten nur die Künstler, die sich zur Regierung bekennen. Die wahren Künstler sind gegen die Diktatur.

STANDARD: Der "Arabische Frühling" hat unterschiedliche Entwicklungen genommen. Tunesien hat einen demokratischen Weg gefunden, Syrien wird von einem furchtbaren Krieg heimgesucht. Ist die ägyptische Revolution gescheitert?

Al-Aswani: Man muss unterscheiden zwischen der Revolution und den politischen Ergebnissen. Eine Revolution bedeutet eine menschliche Veränderung, keine politische. Sie vollzieht sich in den Herzen. Politische Veränderungen kann man auch ohne Revolution erreichen, etwa durch Reformen. Eine Revolution aber rührt an die Wurzeln der Gesellschaft. Die Menschen überwinden die Barriere ihrer Angst und sind bereit, für die Freiheit zu sterben. Das geschah in Ägypten. Darum bin ich immer noch hoffnungsvoll. Wir haben die politischen Ziele der Revolution verfehlt. Aber die Revolution ist nicht fehlgeschlagen.

STANDARD: Wird sie weitergehen?

Al-Aswani: Wir halten daran fest, für die Revolution zu kämpfen, bis sie ihr Ziel erreicht hat. Ich sah viele Junge, die für die Freiheit getötet wurden. Das werde ich nie vergessen. Ich stehe zu diesen Menschen. Diese Revolution geht nicht nur mich an. Sie ist das Werk von 20 Millionen Ägyptern, die an ihr teilnahmen. Wir sind eine junge Nation. 60 Prozent der Ägypter sind unter vierzig Jahre alt. Diese Menschen sind dazu bestimmt, die Diktatur zu überwinden und die Revolution zu vollenden.

STANDARD: Angesichts der Flüchtlinge – insbesondere aus Syrien – gibt es eine große Hilfsbereitschaft unter der Bevölkerung. Aber es gibt auch Stimmen, die mit einer Schadenfreude bemerken, das hätten sie nun von ihrer Revolution ...

Al-Aswani: Wer so denkt, hat keine Ahnung von Geschichte. Auf alle Revolutionen folgten Bürgerkriege oder bürgerkriegsähnliche Zustände. Wenn Sie über die Französische Revolution nachlesen, werden Sie feststellen, wie viele Menschen den Tod erleiden mussten, bis sich in Frankreich eine Demokratie durchsetzte. Das alte Regime verteidigt seine Interessen bis zum Ende. Es tötet jeden, um an der Macht zu bleiben. Genau das geschieht in Syrien. Bashar al-Assad hat mehr Syrer getötet als irgendjemand sonst. Er ist immer noch gewillt, jeden zu töten, der ihn an der Machtausübung hindern möchte. Was in Syrien stattfand, war eine friedliche Revolution, ein Aufstand gegen eine Diktatur. Aber Assad unternahm alles, sie in einen Religionskrieg zu verwandeln, um von westlichen Regierungen Unterstützung zu erhalten. Sein Kalkül ging auf. Tragischerweise sind überall viele Opfer zu beklagen.

STANDARD: Sehen Sie im IS auch eine Bedrohung für Ägypten?

Al-Aswani: Diese Organisation ist eine Gefahr für die Menschheit. Ihre Mitglieder töten Muslime, Christen und Juden gleichermaßen. Unglücklicherweise verschließen einige westliche und arabische Länder die Augen. Sie wollen, dass der IS eine besondere politische Rolle auf dem Gebiet übernimmt. Aber das ist, als würde man einen Tiger in seinem Schlafzimmer großziehen. Zunächst sieht er aus wie ein Kätzchen. Aber wenn er erwachsen ist, wird er alle angreifen, seine Rivalen und die, die ihn aufgezogen haben. Mögen die Länder der Welt auch in vielem nicht einer Meinung sein, sie sollten sich verbünden, um den IS loszuwerden.

STANDARD: Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund das Todesurteil gegen Mohammed Morsi. Besteht die Gefahr, dass seine Vollstreckung einen Märtyrer schafft?

Al-Aswani: Ich bin grundsätzlich gegen die Todesstrafe, egal ob gegen Morsi oder sonst wen. In einer Demokratie begeht der Staat keine Verbrechen. Wenn wir eine zivilisierte Gesellschaft sein wollen, dürfen wir keine Menschen umbringen, auch wenn diese andere Menschen getötet haben.

STANDARD: Die Parlamentswahlen 2012 fanden Sie unfair. Wie blicken Sie auf die kommenden Wahlen?

Al-Aswani: Die Parlamentswahlen werden unter einem Gesetz abgehalten, das von den Autoritäten ohne Parlament verfasst wurde. Juristen bezeichnen dieses Wahlgesetz als verfassungswidrig. Ich erwarte nicht, dass nach den Wahlen ein demokratisches Parlament zustande kommen wird. (Ruth Renée Reif, Album, 8.11.2015)