Das Leben in den Slums von Malawi.

Foto: Screenshot/youtube.com

Morris Michael und Ng'oma Matchaya sind Bettler. Morris (27) ist gelähmt und sitzt in einem Rollstuhl. Ng'oma (29) schiebt ihn. Beide Männer betteln auf einer belebten Kreuzung in Blantyre, der zweitgrößten Stadt im afrikanischen Land Malawi. Beide leben im Manyowe Slum, im Südwesten der Metropole.

Die Lehmhäuser in diesem kleinen Slum winden sich durch ein enges Tal, 20 Minuten von der asphaltierten Straße entfernt. Um sechs Uhr morgens ist jeder im Slum schon auf den Beinen. Ng'oma versorgt seinen Freund mit Tee und Haferbrei. Gegen sieben trägt er den schweren eisernen Rollstuhl aus dem Tal hoch an die Straße. Dann läuft er zurück, wuchtet Morris auf seinen Rücken und steigt wieder hinauf. Anschließend beginnt eine dreistündige Wanderung bis zur Kreuzung.

Fünf Stunden lang gehen und rennen die Männer nun, während sie sich durch die Abgase von LKW, allradangetriebenen Toyotas und klappernden Minibussen manövrieren. Sie grüßen, lachen und winken. Zwei von hundert Fahrern geben ihnen etwas, schätzt Ng'oma. Das sind fast immer Europäer und "Indians", bärtige Männer mit langen Gewändern aus dem Nahen Osten. Der durchschnittliche Malawier blickt im Allgemeinen stoisch vor sich hin. Morris schätzt ihren Tagesumsatz auf etwa 2.000 Malawi Kwacha. Das sind rund vier Euro.

Um drei Uhr endet ihr Arbeitstag. Dann laufen Morris und Ng'oma den langen Weg zurück zum Manyowe Slum. Denn gegen sechs Uhr wird es dunkel und die afrikanischen Nächte sind finster. Am Ende der asphaltierten Straße nimmt Ng'oma seinen Freund wieder auf den Rücken. Er trägt ihn über den holprigen Weg bergab ins Tal und schließlich erreicht er die Zweizimmerwohnung, die kaum drei mal fünf Meter groß ist. Sanft gleitet Morris von seinem Rücken. Dann holt Ng‘oma sich den Rollstuhl zurück. Die 2.000 Kwacha gibt er Morris‘ Schwester, die mit ihren sechs Kindern unter demselben Dach lebt. Diese vier Euro sind die wichtigste Einkommensquelle der neunköpfigen Familie.

Ein untrennbares Duo

Als ich zum ersten Mal mit Morris und Ng'oma spreche, sagen sie mir folgendes: "Zikomo Mulungu. Wir danken Gott. Wir danken Gott, dass er uns die Möglichkeit gab, diese Arbeit zu tun. Wir danken Gott, dass wir dieses Geld verdienen können. Wir danken ihm, dass er Sie zu uns schickt und dass Sie uns jetzt helfen." Jedes Mal, wenn ich nun an der Kreuzung vorbeifahre, spreche ich kurz mit beiden Männern. Ich erfahre, dass Morris im Jahr 2006 eine Infektion bekam und sich danach nicht mehr bewegen konnte. Ng'oma lernte ihn im Jahr 2009 kennen. Seitdem sind sie wie aneinander gekettet. Ng'oma schiebt Morris, und Morris fischt für die Almosen. Ohne Morris kann Ng’oma nicht betteln. Ohne Ng'oma kommt Morris nicht vom Platz.

Morris stammt aus einem staubigen Dorf in der Nähe von Balaka, zwei Stunden nördlich von Blantyre. Ng'oma kommt aus einem Flecken in Nsanje, heiß, schwül und fünf Stunden weiter südlich von Blantyre. Beide sind froh, dass sie dort nicht mehr wohnen. "In Balaka", sagt Morris, "wäre ich vermutlich nicht mehr am Leben." "In Nsanje", erzählt Ng'oma, "müsste ich jetzt hungern." "Hier in Blantyre können wir uns ernähren und Morris‘ Schwester und ihre sechs Kinder noch dazu. Wir sind reich, weil wir diese Möglichkeit haben, Zikomo Mulungu".

Zahl der Slumbewohner stark ansteigend

Morris und Ng'oma sind zwei von 828 Millionen Menschen, die weltweit in einem der 200.000 Slums leben. Rund 61 Prozent aller Slumbewohner leben in Asien. 26 Prozent leben in Afrika und 13 Prozent in Lateinamerika. Die Zahl der Slumbewohner steigt stark an. Dhaka in Bangladesch wächst jedes Jahr um mehr als 400.000 Menschen. 60.000 neue Bewohner ziehen jährlich in die indische Großstadt Mumbai. Lagos in Nigeria zählte im Jahr 1950 300.000 Einwohner. Inzwischen leben 21 Millionen Menschen in Lagos, der zurzeit größten Stadt Afrikas. Von 1,4 Milliarden Menschen, die bis zum Jahr 2030 geboren werden, werden mehr als 1,3 Milliarden in einem Slum aufwachsen. Heute lebt jeder siebte Erdenbürger in einem Elendsviertel. Im Jahr 2050 wird das jeder Dritte sein.

Im reichen Teil der Welt stellen wir uns das Leben in Slums tragisch vor. Zum Teil stimmt das Bild. In Dhaka sind zwei Drittel des Trinkwassers verschmutzt. In praktisch jedem Slum ist die Luft schmutziger als auf dem Lande oder im Stadtzentrum. In afrikanischen Slums sind doppelt so viele Menschen mit HIV infiziert als in den Dörfern. Im Irak oder in Afghanistan fürchten die Slumbewohner Terroranschläge. Die Kriminalitätsrate ist hoch. Die Polizei ist häufig korrupt. In den Armenvierteln verbreiten sich Epidemien wie Cholera und Ebola rasend schnell.

Und dann gibt es diese kolossale Ungleichheit. Wer sein Dorf verlässt und in die Slums von Islamabad, Lima oder Kinshasa zieht, ist in der Regel viel ärmer als diejenigen, die dort seit Jahrzehnten leben. Der Unterschied zwischen arm und reich besteht in den Dörfern durchgängig aus nicht mehr als einem zusätzlichen Kleidungsstück, einem alten Fahrrad oder einem Dach aus Wellblech. In den Slums aber lebt der Besitzer eines Toyota Prado neben einem, der mit einer Mahlzeit pro Tag durchhalten muss. Große Unterschiede, so wissen wir seit der Debatte um Thomas Piketty, zerstören die Gemeinsamkeit in einer Gesellschaft. Große ökonomische Ungleichheiten sind ein Nährboden für Gewalt, sie erschweren die Verringerung von Armut und behindern das Wirtschaftswachstum.

Die vielen Optionen im Slum

Auch Ng'oma und Morris charakterisieren ihr Leben als schwierig und mühsam. Sie manövrieren den schweren Rollstuhl durch teure Nissans und Mitsubishis und erleben tagtäglich die schreckliche Ungleichheit der afrikanischen Großstadt. Aber die Bettler erzählen daneben noch eine andere Geschichte. Eine Geschichte, die für viele Menschen aus dem Westen überraschend sein wird. Sie erzählen von den zahlreichen Möglichkeiten, die der Slum ihnen bietet. Sie lösen das Rätsel auf ihre Art, warum weltweit jährlich mehr als 60 Millionen Menschen ihr Leben auf dem Land eintauschen gegen eine Existenz in Slums.

Wer, wie Morris und Ng‘oma, in einem afrikanischem Dorf aufwuchs, für den bedeutet der Umzug in die Slums von Blantyre einen beträchtlichen Schritt nach vorne. Leben im Manyowe Viertel mag schwer sein, die Existenz in den Dörfern von Malawi ist durchweg wesentlich schwieriger. Wer in einem Dorf lebt, wird in die Existenz eines Kleinbauern gezwungen. Selbst dann, wenn man viel lieber Buchhalter, Schweißer, Gospelsängerin, Lehrer, Webdesigner oder Arzt geworden wäre. Und der Dorfbewohner, der kein Landwirt sein kann, weil er, wie Morris Michael, bis zum Hals gelähmt ist, ist ausschließlich auf das Wohlwollen anderer angewiesen.

So mühsam es auch für ihn war, in der Stadt konnte Morris eine unabhängige Existenz aufbauen. Für Ng'oma war es nicht anders. Während der Rest der Welt sich vom Wirbelsturm der Globalisierung mitreißen ließ, schien das Leben in Nsanje still zu stehen. In dem schwülen Dorf, in dem Ng’oma aufwuchs, gab es keine weiterbildenden Schulen. Es gab keinen Strom oder sauberes Wasser, geschweige denn Fernsehen, Telefon oder Internet. Banken und Gerichtshöfe, Zeitungen und Kliniken, Computer oder auch nur Kaugummi: alles, was in der Stadt als selbstverständlich gilt, gab und gibt es im Dorf nicht.

Keine Ausbildung für Frauen

Die Ärmsten in den Dörfern sind immer die Frauen. Sie haben am wenigsten zu sagen. Frauen arbeiten auf den Feldern und machen praktisch alle Hausarbeit. Eine Ausbildung wird ihnen untersagt, sie kümmern sich um die Kinder und laufen jeden Tag weite Strecken, um sauberes Wasser zu holen. Für viele Dorffrauen in Malawi, Venezuela oder Indien ist ein Umzug in die Stadt geradezu eine Befreiung.

Wenn man den Reiz der Slums verstehen möchte, sollte man sie nicht mit den Vorstädten Europas vergleichen. Die Verlockung eines Slums begreift man eher aus der Perspektive eines jungen Bauern aus Madhya Pradesh in Indien, einer ehrgeizigen jungen Frau auf dem Lande Perus oder eines gelähmten Mannes aus Balaka in Malawi. Dabei darf man nicht aus den Augen verlieren, dass es für alle diese Menschen nicht nur auf eine Ausbildung oder einen Job ankommt. "Neben einem Job zieht junge Menschen aus einem indischen Dorf in Mumbai auch die Freiheit an". Das schrieb der indische Journalist Suketa Mehta in einem Artikel in der New York Times mit den treffenden Titel: "Schmutzig, überfüllt, reich und schön".

Reich und schön

Und genauso ist es. Die 200.000 Slums der Welt sind schmutzig, überfüllt und gefährlich. Aber wer vom fernen Land kommt, für den sind Slums auch reich, schön und voller Dynamik. Ein Tag in Dharavi, Mumbai, in Tondo, Manila oder in Ndirande, Blantyre ist ein Angriff auf die Sinne. Eine andauernde Konfrontation mit Menschen die etwas verkaufen wollen: von Musik zur Machete, von Sex zu Samosas. Ein kontinuierlicher Strom an Gerüchen und Bildern, die Geräusche aus Tavernen und Unterkünften, das Übermaß an Tempeln, Kirchen und Moschee. Der Slum ist das Optimum einer modernen Metropole. Es ist die Stadt des 21. Jahrhunderts in ihrer meist dramatischsten und maximalen Form. Für 100 Millionen Jugendliche vom Land ist die Anziehungskraft eines Slums einfach unwiderstehlich. Daher werden in einigen Jahrzehnten 3,5 von 10 Milliarden Menschen in Slums leben.

Unser Planet verslumt. Und für Mike Davis ist diese ‚Verslumung‘ ein Alptraum. Davis ist der Autor des apokalyptischen Bestsellers "Planet der Slums", 2006. Er hält das unkontrollierte Wachstum der modernen Armenviertel für eine Katastrophe. Davis unterrichtet an der Universität von Kalifornien und nennt sich: "marxistischer Umweltschützer". Er glaubt, dass das rasche Wachstum der Slums sowohl biologisch als auch ökologisch unaufhaltbar ist. So viele Menschen auf so engem Raum mit so wenig Ausstattung: es gebe kein besseres Erfolgsrezept für Kriminalität, Krankheiten und Verschmutzung. Dass so Viele in die Städte ziehen, sei die große moralische Katastrophe unserer Zeit.

"Zurück in den Zeiten Dickens"

"Wir sind zurück in den Zeiten Dickens‘ ", schreibt Davis. Was heute in den Städten der dritten Welt passiert, hatte Charles Dickens ja schon im Londoner Slum des 19. Jahrhunderts gesehen. Für einen Menschen aus dem Westen, vertraut mit den Geschichten von Oliver Twist und David Copperfield, scheint es in der Tat verlockend, die Slums von Dhaka, Kinshasa oder Lima abzuwerten.

Eine solche Perspektive verhüllt jedoch mehr, als sie uns offenbart. Das Leben in den europäischen Slums des 19. Jahrhunderts war viel dramatischer als das Leben in den Slums des gegenwärtigen Afrika. Die Sterberate von Kindern und ihren Müttern war im 19. Jahrhundert schon so massiv, dass die Bevölkerungsrate der Städte nur durch die konstante Migration vom Land in die Stadt aufrechtgehalten werden konnte. In einigen englischen Industriestädten lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei nur 25 Jahren, während die Lebenserwartung von Menschen im ländlichen Raum Englands 45 Jahre betrug.

Länger leben im Slum

Im heutigen Afrika ist es umgekehrt. In den Armenviertel wird man im Durchschnitt älter als auf dem Land. Laut Forscher Martin Brockerhoff bleiben heute viele Millionen afrikanischer Kinder am Leben, nur weil ihre Mütter in die Stadt gezogen sind. Außerdem ist die städtische Geburtenrate viel niedriger als die auf dem Land. Äthiopische Frauen in der Stadt gebären 2,6 Kinder, auf dem Land Äthiopiens werden im Durchschnitt 5,5 Kinder geboren. Selbstverständlich gehen Kinder, die in Slums aufwachsen, viel häufiger zur Schule. Neben der Abwanderung aus den Slums wachsen afrikanische Städte heute auch, weil ihre Kinder einfach nicht mehr sterben.

Anders als in der Zeit von Dickens sind die modernen Slum-Bewohner seltener ärmer als ihre Familien in den Dörfern. In den Favelas von Brasilien sind fünf Prozent sehr arm gegenüber 25 Prozent auf dem brasilianischen Land. Der Anteil der extrem armen Menschen in den Slums von Lagos ist nur halb so groß wie der der Armen in nigerianischen Dörfern. Kolkata ist die Hauptstadt des Bundesstaats Westbengalen in Indien. Das Leben in den Slums Kolkatas ist geradezu erbärmlich. Aber der Anteil der extrem Armen in Kolkata beträgt 11 Prozent, während die extreme Armut in der näheren Umgebung Kolkatas bei etwa 24 Prozent beträgt.

Urbanisierung, so stellt sich heraus, ist nicht nur eine Waffe gegen Kindersterblichkeit, Analphabetismus und Bevölkerungswachstum. Urbanisierung führt auch zur Verringerung von Armut. Der Umzug von Morris und Ng'oma aus ihren Dörfern Balaka und Nsanje in die Slums von Blantyre ist demnach mehr als verständlich. Für arme Menschen ist es besser, in der Stadt zu leben. Auch wenn es Elendsviertel sind.

Spitäler, Cafés, Banken

Dass es sich in Slums so viel besser leben lässt als auf dem Land, versteht sich aufgrund der Tatsache, dass es hier Krankenhäuser, Internet-Cafés und Banken gibt. Hier können heranwachsende Kinder die Oberschule besuchen. Hier können Frauen eine Ausbildung machen und Arbeit finden.

Der Slum profitiert von Synergieeffekten: dass in einem Slum so viele Menschen leben und dass sie alle in unmittelbarer Nähe zusammen arbeiten. Die andauernde Auseinandersetzung mit so vielen anderen, mit so vielen neuen Ideen, Haltungen und Entscheidungen fördert Kreativität und Unternehmergeist. Nur an einem Ort, an dem viele Menschen viele verschiedene Dinge tun, ist es möglich, etwas Neues zu überlegen, sich zu spezialisieren und sich darin zu qualifizieren. Als nächstes kann man dann entscheiden, mit anderen zusammen zu arbeiten, die sich in anderen Gewerben spezialisiert haben.

Während im dünn besiedelten Dorf jeder das Gleiche tut, nämlich Gemüse und Getreide anbauen, zubereiten und essen, bietet der Slum den Menschen die Möglichkeit, sich in Sparten zu spezialisieren. Zum Beispiel auf Elektrotechnik, die Vernetzung von Computern oder den Entwurf von Websites, um sich dann zusammenzuschließen und eine Klinik mit modernster Internet-Technologie auszustatten.

Austausch von Qualität und Ideen geschieht nur da, wo Menschen sich treffen und in der Lage sind Hand in Hand zu arbeiten. Nur zusammen gelingen Fortschritt, Kreativität, Spezialisierung und Kooperation. Diese Art Entwicklung geschieht allein im städtischen Raum.

Hoffen auf eine bessere Zukunft

Slums sind nicht arm, weil sie reiche Leute ärmer machen. Auch sind sie nicht arm, weil arme Menschen in ihrer Armut steckenbleiben. Slums sind arm, weil Millionen Besitzlose in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft in die Slums ziehen. Vom Slum erwarten sie sich, ihre Armut zurücklassen zu können. Obwohl nicht jedem Slum-Bewohner der Sprung aus der Armut gelingt, ziehen die meisten Menschen nicht mehr zurück ins Dorf. Sie wissen es. Die Zukunft für gesunde, wohlhabende und glückliche Menschen liegt nicht auf dem Land, sondern in der Stadt. Und für die nächsten Jahrzehnte werden diese Städte größtenteils aus Slums bestehen. (Ralf Bodelier, 20.11.2015)