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Russische Nationalisten am "Tag der Einheit des Volks": Anlass für die patriotischen Wallungen ist die Erinnerung an das Jahr 1612.

Foto: Reuters/Shemtov

In strenger Ordnung marschieren die Kolonnen über die Twerskaja, Moskaus Luxuseinkaufsmeile. Einem Block mit hunderten blauen Fahnen und der Aufschrift "Offiziere Russlands" folgt eine Abteilung mit orange-schwarzen Flaggen des St.-Georgs-Bands, das zum Symbol der prorussischen Separatisten im Donbass wurde. In anderen Einheiten herrscht das weiß-blau-rot der russischen Trikolore vor, die in Übergröße auf dem Platz vor dem Bolschoi-Theater in Sichtweite von Duma und Kreml aufgespannt werden.

85.000 Menschen seien zur Veranstaltung am "Tag der Einheit des Volks" gekommen, heißt es im Staatsfernsehen, wo auch von ähnlichen Kundgebungen in anderen Städten berichtet wird. Die Bilder erinnern an die Riesenaufmärsche zu den Jahrestagen der "Großen Sozialistischen Oktoberrevolution". Diese wurden am 7. November gefeiert und vor zehn Jahren vom "Tag der Einheit des Volks" am 4. November abgelöst.

Der Festtag vereint drei der wichtigsten Motive Putin'scher Politik: religiös, konservativ und militaristisch. Bis zur Revolution wurde er als "Tag der Gottesmutter-von-Kasan-Ikone" gefeiert. Unter diesem Heiligenbild hatte 1612 ein russisches Volksheer die polnischen Okkupanten aus dem Kreml vertrieben und damit die "Zeit der Wirren" beendet.

Das Bild einer äußeren Gefahr beschwört der Kreml auch heute gern herauf. Umfragen zufolge sind inzwischen 54 Prozent von der Einheit des Volks überzeugt. Als zusammenschweißende Faktoren gelten die schwierige weltpolitische Lage, die kollektive Mentalität und die Unterstützung für den "nationalen Führer" Putin.

Dessen Popularitätswerte sind zuletzt laut Umfragen auf sagenhafte 90 Prozent geschnellt – Wirtschaftskrise, Rubelabwertung, Inflation und anhaltender Korruption zum Trotz. Die allgegenwärtigen Probleme werden dabei dem Westen und den Verrätern im eigenen Land zugeschrieben.

Nationaler Schulterschluss

"Gesunkener Lebensstandard, steigendes Rentenalter, sinkender Wert der nationalen Währung, Erhöhung der Leitzinsen durch die Zentralbank, teure Hypotheken, Kürzungen bei der Polizei, die Schließung von Krankenhäusern, die Verteuerung der Mietkosten ..." – all das sei auf die "Aktivität der fünften Kolonne" zurückzuführen, hetzt die "Nationale Befreiungsbewegung", einer der Organisatoren der Massenkundgebung in Moskau. "Willst du besser leben? Dann unterstütze unseren nationalen Führer im Kampf gegen die prowestlichen Verräter", so der Aufruf zur Demo.

Und doch sind die Russen nicht in einen kollektiven Rausch verfallen. Sanktionen und Gegensanktionen sind bereits Thema für zahlreiche Witze. Putins langes Schweigen nach der Flugzeugkatastrophe in Ägypten rief Missmut hervor.

Das generelle Misstrauen der Bevölkerung gegenüber Behörden und Regierung bleibt ohnehin groß. Argwohn in Bezug auf die Obrigkeit ist wohl der größte Einheitsfaktor in Russland. Darüber können auch 85.000 Demonstranten in Moskau nicht hinwegtäuschen. Für eine von den Behörden organisierte Veranstaltung ist das nämlich nicht wirklich viel. Die meisten Russen blieben zu Hause, um den freien Tag zu genießen. (André Ballin aus Moskau, 5.11.2015)