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Mit einem aktiven und semi-legalen Wahlkampf mobilisierte er die Wählerschaften: Präsident Recep Tayyip Erdoğan.

Foto: REUTERS/Murad Sezer

Das Resultat der türkischen Parlamentswahl war wohl auch für die größten AKP-Sympathisanten eine Überraschung. Trotz zahlreicher innen- und außenpolitischer Probleme konnte die regierende Partei ihren Stimmenanteil von 40,9 auf 49,40 Prozent steigern. Damit hat die AKP wieder die absolute Mehrheit im Parlament. Die Partei von Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist der einzige Gewinner der Wahl vom Sonntag.

Die Verlierer

Die Verlierer sind alle anderen politischen Fraktionen – und die türkischen Meinungsforschungsinstitute. Trotz starker Umfragewerte stagnierte die sozialdemokratische Oppositionspartei CHP mit rund 25 Prozent und verlor einige ihrer Bastionen an die AKP. Die größte Überraschung der Wahl im Juni, die kurdennahe HDP, verlor ebenfalls Stimmen und konnte die Zehnprozenthürde nur relativ knapp mit 10,6 Prozent durch die Unterstützung von Auslandstürken überwinden – in der Schweiz und in Großbritannien wurde die HDP erneut die stärkste Fraktion. Der größte Verlierer der Wahl ist zweifelsohne die ultranationalistische MHP. Ihr Stimmanteil ist von 16,29 auf rund zwölf Prozent gesunken.

Der AKP ist es gelungen, den schier unmöglichen Spagat zwischen konservativen Kurden und türkischen Nationalisten zu machen und in beiden Lagern zu fischen. Das Abwerben des Sohns eines Gründungsmitglieds der Ultranationalisten und die koalitionsunwillige Haltung dieser Partei dürften Gründe sein, warum Stimmen von der MHP an die AKP wanderten.

Die Kurdenfrage

Wie die AKP trotz des Wiederauflebens des Kurdenkonflikts in den Kurdengebieten Stimmen gewinnen konnte, ist wesentlich schwieriger zu beantworten. Sogar in der Kurdenhochburg Diyarbakır konnte sich die AKP von 14 auf 22 Prozent steigern. Nach dem Verlust einiger Gebiete in Südostanatolien bei den vergangenen Wahlen hat sich die AKP dort neu aufgestellt. Zudem ist die fundamentalistisch-islamistische kurdische Kleinpartei HÜDAPAR diesmal nicht angetreten. Das könnte ebenfalls zum Erfolg der AKP beigetragen haben. Auch konservative Kurden könnten aus Protest gegen die PKK und deren Aktionen die AKP unterstützt haben. Nahezu alle Türkei-Experten waren sich einig, dass die zunehmende Nationalisierungspolitik der AKP und die Gefechte zwischen dem Militär und der PKK in Stimmenverlusten in der kurdischen Bevölkerung resultieren würden. Dass die Kurdenfrage jedoch differenzierter zu betrachten ist, dürfte spätestens jetzt auch bei westlichen Medien angekommen sein.

Erdoğan mobilisierte Wähler

Der starke Mann am Bosporus ist Recep Tayyip Erdoğan. Sein Plan, die absolute Mehrheit durch Neuwahlen zu erringen, ist aufgegangen. Zum Zeitpunkt der Entscheidung war die Türkei so stark polarisiert, dass größere Umschwünge von Wählerstimmen äußerst unwahrscheinlich erschienen. Entgegen allen Prognosen – inklusive meiner – ging die AKP in die Neuwahlen und überraschte die ganze Welt. Mit einem aktiven und semilegalen Wahlkampf – man darf nicht vergessen, dass Erdoğan als amtierender Präsident keine Partei öffentlich unterstützten dürfte – mobilisierte er die Wählerschaften, die Premier Ahmet Davutoğlu bei der Wahl im Juni nicht mobilisieren konnte. Die Wahlbeteiligung stieg bei der Neuwahl sogar und erreichte mehr als 85 Prozent – ein Wert, der für viele westliche Länder unvorstellbar ist.

Zukunft des Landes

Für die Oppositionellen jeglichen Spektrums ist dieses Resultat keine gute Nachricht. Möglicherweise wird sich die AKP in ihrem autoritären und repressiven Führungsstil der vergangenen Jahre bestätigt fühlen und die Repressalien fortsetzen oder sogar intensivieren. Erst vergangene Woche wurde in der oppositionellen Koza-Ipek-Mediengruppe eine Razzia durchgeführt. Die beiden TV-Kanäle dieser Gruppe wurden vom Staat beschlagnahmt und eine redaktionelle Neuausrichtung bekanntgegeben. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass in Zukunft weitere kritische Medien "umfunktioniert" werden. (Tuna Bozalan, 4.11.2015)