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EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (re.) vor wenigen Tagen mit dem mazedonischen Präsidenten Gjorge Ivanov, dessen Land der EU beitreten möchte und jetzt Druck macht.

Foto: APA/EPA/Stephanie Lecocq

STANDARD: Die EU-Kommission veröffentlicht jeden Herbst Fortschrittsberichte zu den Kandidatenstaaten. Heuer ist das nicht passiert. Human Rights Watch geht nun davon aus, dass die Kommission es nicht getan hat, weil im Türkei-Bericht die Menschenrechtslage und die Medienfreiheit in der Türkei kritisiert wird. Gleichzeitig will die EU der Türkei entgegenkommen, da man sie wegen der Flüchtlingskrise braucht.

Tobias Flessenkemper: Es ist in der Tat erstaunlich, dass es seit Jahren zum ersten Mal nicht möglich ist, diesen Rhythmus beizubehalten. Der Prozess der EU-Erweiterung wird zunehmend von den EU-Mitgliedsstaaten politisiert. Das hat jetzt eine neue Qualität erreicht. Es ist nicht überzeugend, dass die Kommission, die in den vergangenen Jahren viele Krisen bewältigt hat, nun die Flüchtlingskrise für die Verzögerung der Fortschrittsberichte verantwortlich macht. Es scheint da eher eine unerquickliche Verbindung zu geben und so zu sein, dass durch den Besuch von Angela Merkel in Ankara ein sogenannter Pragmatismus eingeführt wurde. Letztlich sieht es so aus, als ob man hofft, dass die Türkei helfen könnte, die Flüchtlingskrise abzumildern im Tausch gegen ein weniger genaues Hinsehen bei Meinungsfreiheit und Menschenrechten.

STANDARD: Welche Auswirkungen hat das auf die Erweiterungsstrategie der EU?

Flessenkemper: Das steht in der Folge einer weiteren Nationalisierung der Erweiterungspolitik, bei der die EU-Mitgliedsstaaten großen Einfluss ausüben. Bisher war der Einfluss klar, wenn es um den Abschluss der Assoziierungsabkommen, die Eröffnung der Verhandlungen oder das Öffnen und Schließen von Verhandlungskapiteln ging. Nun ist zum ersten Mal offensichtlich, dass die Mitgliedsstaaten die Autorität der EU-Kommission bei der Erstellung der Fortschrittsberichte untergraben. Dabei hat die Kommission wichtige Anstrengungen unternommen, die Fortschrittsberichte zu verbessern. Das Instrument wurde in den vergangenen Jahren als wenig nützlich angesehen. Also hat man den Schwerpunkt auf Kapitel 23 und 24 des Acquis, Rechtsstaat und Justiz, gelenkt, und Kommissar Johannes Hahn hat auch begonnen, bei den Grundrechten genauer hinzusehen, etwa bei der Frage der Medien.

Dieser Ansatz scheint jetzt ins Hintertreffen zu geraten. Damit gehen Risiken einher, nicht nur in der Türkei, sondern auch auf dem westlichen Balkan. Denn wenn die Reformbemühungen bei den politischen Kriterien etwa in der Justiz nicht fruchten, dann wird das Versagen der Länder bei der Regierungsführung zur größten Stärke Russlands. Denn wenn die EU ihre eigenen Werte als verhandelbar betrachtet, greift das Reforminstrumentarium der EU nicht mehr. Der Versuch eines möglichst objektiven Prozesses bei den Verhandlungen wird untergraben.

STANDARD: Wenn Sie sagen, der Erweiterungsprozess sei nationalisiert. Heißt das nicht einfach, dass die Kommission sehr schwach ist?

Flessenkemper: Ja, das heißt es. Das ist bereits ein längerer Prozess, der seit dem Lissaboner Vertrag offensichtlich ist. Bei der heute entscheidenden Schnittstelle von Migration, Erweiterung und Außenpolitik haben die Mitgliedsstaaten das Heft in der Hand, und die Kommission ist nicht in der Lage, kongruente Vorschläge zu machen.

STANDARD: Welche Auswirkungen hat das auf die Glaubwürdigkeit der EU?

Flessenkemper: Es steht ohnehin nicht gut um die Glaubwürdigkeit der EU in der Region. Die letzten Auseinandersetzungen haben sicher kein Bild der Stärke und Zusammenarbeit abgegeben. Wenn aber bei sensiblen Themen wie den politischen Kriterien mit den Kandidaten nicht aufrichtig gesprochen wird, untergräbt das nachhaltige Zusammenarbeit. Allein der Verdacht, dass der Türkei-Bericht zurückgehalten wird wegen der Wahlen, lässt eine Instrumentalisierung vermuten. Dabei war der Kommission daran gelegen, diese Berichte nutzbar zu machen und in den Ländern einen positiven Debattenbeitrag für Reformen zu geben und auch die Zivilgesellschaft an der EU-Integration zu beteiligen. Das dürfte nun noch schwieriger werden.

STANDARD: Bisher hat der Besuch Angela Merkels in Ankara nichts gebracht. Wenn die EU der Türkei so entgegenkommt, weshalb besteht man dann nicht auf einem Gegenentgegenkommen?

Flessenkemper: Das Vorgehen ist wirklich nicht einfach zu verstehen, zumal der EU-Beitritt ja gar keine solche Priorität der türkischen Regierung ist. Dass man glaubt, damit Verhaltensänderungen erzielen zu können, ist schwer vorstellbar. Es zeigt wohl eher, dass der Kaiser nackt ist. Was angeboten wird, ist ja nicht das, was auf der anderen Seite interessiert. Die Frage bleibt aber, ob die mangelnde Aufrichtigkeit die Reformkräfte in der Türkei nicht auch noch schwächt. Besonders wenn man in der Türkei die kritischen Medien ansieht, sind es doch die, die die europäische Perspektive stärken. Also wem nützt das Ganze langfristig?

STANDARD: Werden bisherige Bedingungen für den EU-Beitritt – Verbesserung der Medienfreiheit oder Menschenrechtslage – nun nicht mehr wichtig genommen? Welche Auswirkungen hat das auf die Kandidaten auf dem Balkan?

Flessenkemper: Es scheint nun auf die politischen Kriterien einen weniger starken Fokus zu geben. Das sieht man auch im Hinblick auf Mazedonien in der Migrationskrise.

STANDARD: Sie meinen, dass die mazedonische Regierung wegen der Flüchtlingskrise auf keine EU-Forderungen mehr eingeht?

Flessenkemper: Sie brauchen nicht mehr auf den Druck einzugehen. Sie müssen nichts mehr wie noch vor einigen Jahren, denn sie werden ja jetzt von der EU gebraucht. Durch die Migrationskrise haben sich die Plätze der Spieler am Tisch gedreht. Auf dem Balkanrouten-Gipfel hat man gesehen, dass diese Staaten als gleichberechtigte Mitspieler gesehen werden wollen. Die Gewichte verschieben sich, man sucht eine gemeinsame Antwort auf die Migrationskrise – und weil das auch eine Schließung der Balkanroute beinhalten kann, kommt den Staaten eine Rolle zu. Man geht anders mit ihnen um als vorher. Mazedonien und Serbien liegen zwischen den EU-Staaten Griechenland, Kroatien und Ungarn. Und es gibt keine Lösung ohne sie. Sie sind keine Bittsteller mehr. Serbien hat durch seinen Beitrag in der Flüchtlingskrise seine Verhandlungsposition gestärkt.

STANDARD: Zu welchen Szenarien kann das führen?

Flessenkemper: Bisher hat man die Bedingung gestellt: Reformiert eure Länder im Justizbereich und bei der Regierungsführung. Nun ist die EU noch weniger in der Lage, mit der Oberhand zu spielen. Sie gibt nicht mehr das Angebot, Hilfe dabei zu leisten, sondern sie bittet um Mithilfe in der Bewältigung der Flüchtlingskrise. Also werden die Bedingungen weniger wichtig, und für Kooperation bei der Bewältigung der Krise werden Belohnung im EU-Erweiterungsbereich in Aussicht gestellt. Das Problem ist, dass dabei ein repressives Element, nämlich die Migrationskontrolle, das neue ausschlaggebende Kriterium für den formalen Integrationsprozess ist und nicht mehr die liberale Agenda der politischen Kriterien.

Es ist unaufrichtig, wenn man gestern noch Korruptionsbekämpfung verlangt hat, und heute ist das beiseitegeräumt. Dieser sogenannte Pragmatismus birgt große Risiken. Den meisten wird damit kein Gefallen getan, wenn Regierungsführung und Rechtsstaat nicht vorankommen. Dann kommt es zum Montenegro-Effekt: Wenn es schwache Regierungsführungen gibt, ist das Feld offen für die Einflussnahme des Putin-Regimes. Das hat man in Moldau und in Montenegro gesehen. Und Russland braucht gar nichts zu tun, wenn ihnen das zufällt.

STANDARD: War es eine Falle, dass man etwa in Montenegro nie klar genug gesagt hat, dass man so eine Führung nicht duldet?

Flessenkemper: Wahrscheinlich. Und jetzt, wo man in der EU innenpolitisch unter Druck kommt, neigt man dazu, schlechte Deals zu machen. Die Gefahr ist, dass sie weder den EU-Mitgliedsstaaten noch den Flüchtlingen noch den Staaten auf der Balkanroute nützen und schwer zu korrigieren sind. (Adelheid Wölfl, 2.11.2015)