Nur selten bekommt man in der Heimatstadt von Michael Jackson jemanden auf der Straße zu sehen. Verfallene Läden, Häuserzeilen und Industrieruinen prägen das Bild von Gary, Indiana.


Foto: Viennale

Man müsse akzeptieren, was geschehen ist, meint der junge Mann gegen Ende des Films. Wenn man die Vergangenheit verklärt, würde einem das gar nicht weiterhelfen, denn Gary sei nie eine lebenswerte Stadt gewesen. Zu hohe Luftverschmutzung, zu viel Autoverkehr. Wer einen Blick ins Archiv der Stadt werfe, könne rasch die Wahrheit erkennen und sich die Sehnsucht nach den guten alten Tagen sparen.

Der Mann ist Weißer, und das ist in diesem Fall deshalb wichtig, weil Gary, eine Kleinstadt in der Nähe von Chicago, beinahe ausschließlich von Afroamerikanern bewohnt wird. In den vergangenen fünfzig Jahren sind mehr als Hälfte der Einwohner von hier weggezogen, praktisch die gesamte weiße Mittelschicht hat Gary verlassen. Heute leben nur noch knapp 80.000 Menschen in der 1906 gegründeten Stadt am Michigansee, die 1967 als erste Großstadt in den USA einen schwarzen Bürgermeister wählte.

Die Stadt spricht selbst

Kaum hat der Mann zu Ende gesprochen, sieht man Bilder von Gräbern: Auf dem Friedhof von Gary finden sich noch die Namen der europäischen Einwanderer – Polen, Serben, Kroaten, Griechen -, die das soziale und kulturelle Leben jahrzehntelang prägten.

Blandine Huk und Frédéric Cousseau haben den Titel ihres Dokumentarfilms klug gewählt: In My Name is Gary scheint tatsächlich diese Stadt zu sprechen, nicht nur mittels zahlreicher Stimmen aus dem Off, die persönliche Geschichten und solche ihrer Vorfahren erzählen. Die alten Musiker etwa berichten von ihren Vätern, die hoffnungsfroh aus dem Mississippi-Delta in den Norden zogen, um hier ein neues Leben zu beginnen und Wohlstand zu finden. Geblieben ist der Blues.

Am anderen Ufer des Sees sieht man die Skyline von Chicago, das einem von hier aus wie ein Fluchtort erscheint. Langsam fährt die Kamera die menschenleeren Straßen ab, vorbei an verfallenen Häuserzeilen und Industrieruinen. Und doch gelingt es diesem Film, den Niedergang der Stadt ohne falsche Melancholie erfahrbar zu machen, denn trotz aller Reminiszenz an die glorreichen Tage der Stahlindustrie bleibt My Name is Gary stets im Hier und Heute verhaftet. Da mögen die historischen Archivbilder von Straßenumzügen und Paraden noch so sehr nostalgisches Flair verbreiten – die Menschen, die zu Wort kommen, sprechen die Sprache der Gegenwart und damit über ihr Zuhause.

"Come like you are, don't leave like you came", prangt in riesigen Lettern auf der Zion Progressive Cathedral, in der man für ein paar Minuten einem Gottesdienst beiwohnt. Zwei kleine Mädchen klatschen begeistert zur Gospelmusik. Und irgendwie hat man das Gefühl, diese Aufforderung könnte auch einem selbst gelten: In diesem Film kann man eine Stadt besuchen, ohne vorher etwas über sie wissen zu müssen. Am Ende wird man nicht nur über Gary einiges erfahren haben. (Michael Pekler, 30.10.2015)