Die Chefin des französischen Front National, Marine Le Pen, hat am Donnerstag bei der Plenarsitzung im Europaparlament in Straßburg zum Abstimmungsskandal um ihre Person neuerlich für einen Eklat gesorgt. In einer Wortmeldung gab die Chefin der rechten Fraktion "Europa der Nationen und der Freiheit" zu, dass ihr Stellvertreter Marcel de Graaff von der niederländischen Freiheitspartei am Mittwoch während ihrer Abwesenheit mit ihrer elektronischer Stimmkarte für sie abgestimmt hatte. Das ist nach den Parlamentsstatuten streng verboten, ein Mandat kann nicht delegiert werden. Bei einem Verstoß drohen einem Abgeordneten ein zeitweiliger Ausschluss von der Arbeit in Ausschüssen und im Plenum beziehungsweise Geldstrafen.

Le Pen versuchte den Fall herunterzuspielen. Sie fügte dem Geständnis hinzu, dass de Graaff das "ohne meine Genehmigung getan hat". Gleichzeitig ging sie zum Gegenangriff auf ihre Kritiker über, insbesondere den Chef der Fraktion der Christdemokraten (EVP), den Deutschen Manfred Weber. Sie warf ihm vor, "mich unflätigst angegriffen" zu haben: "Er hat mich diffamiert, mich zweier Straftaten bezichtigt, ohne Beweise. Ich bin unschuldig", rief Le Pen ins Plenum, wo es zu lautstarken Protesten gegen sie kam.

"Mindestens siebenmal"

Le Pen hatte am Vortag das Plenum vorzeitig verlassen, um zu einer Wahlkampfveranstaltung in Frankreich aufzubrechen. Als de Graaff für sie laut Parlamentsdirektion "mindestens siebenmal" mitabstimmte, wurde das von mehreren Abgeordneten beobachtet. Die Schwedin Anna Luisa Corazza Bildt meldete sich zu Wort, wies den Sitzungspräsidenten darauf hin und verlangte, "das Abstimmungsverhalten von Madame Le Pen zu überprüfen". Weber hatte daraufhin im Namen seiner Fraktion beim Parlamentspräsidium auch offiziell eine Untersuchung verlangt.

Der Abstimmungsskandal sorgte für beträchtliche Aufregung. Le Pen schilderte die Vorgänge am Donnerstag so: "Ich habe den Saal verlassen und habe meine Stimmkarte dagelassen, wie viele andere das auch tun. Herr de Graaff hat die Karte für mich (später, Anm.) mitgenommen, er hat viermal für mich abgestimmt, ich sage es noch einmal, ohne meine Genehmigung." Das sei "eine Ungeschicklichkeit gewesen, das gebe ich zu, rechtfertigt aber nicht dieses Schmierentheater", erklärte die FN-Chefin. Ihr Stellvertreter habe sich "wie ein Gentleman benommen". Im Übrigen behalte sie sich Klagen gegen EVP-Fraktionschef Weber vor.

EVP-Chef Weber "fassungslos"

Dieser meldete sich sofort zu Wort und wies die Angriffe Le Pens zurück: "Man steht fassungslos da" vor dem, was sie hier verbreite, und das sei "an Frechheit auch nicht zu überbieten". Es zeige sich, dass die extrem rechte Fraktion "kein ordentliches Demokratieverständnis" habe. "Das Mandat ist heilig, das haben wir vom Bürger bekommen. Es ist nicht delegierbar", erklärte der EVP-Fraktionschef. In einigen Staaten sei ein solcher Missbrauch eine Straftat, und das sei auch klagbar. "Sie haben einen großen Skandal auf dem Buckel", meinte Weber, der sich dafür aussprach, dass "alle rechtlichen Maßnahmen gegen Le Pen unternommen werden".

Die Statuten des Europaparlaments legen fest, dass Abgeordnete ihr Stimmrecht persönlich ausüben müssen. Ein Zuwiderhandeln kann mit bis zu zehn Tagen Parlamentssperre geahndet werden. Die Präsidiale des Parlaments wird darüber vermutlich im November entscheiden, wenn die Betroffenen zu dem Vorfall angehört wurden. (Thomas Mayer, 29.10.2015)