Bild nicht mehr verfügbar.

Geschaffte Sieger: Neuseelands Brodie Retallic (links) muss neben den jubelnden Kollegen erst einmal durchschnaufen.

Foto: reuters/cheyne

Bild nicht mehr verfügbar.

Die Haudegen Richie McCaw (Mitte) und Schalk Burger (rechts) lieferten sich ein letztes Mal harte Bandagen. Neuseelands Kapitän beendet mit dieser Weltmeisterschaft seine internationale Karriere.

Foto: reuters/wermuth

Wien/Twickenham – Vor dem samstäglichen Klassiker in Twickenham gestand kaum jemand den Südafrikanern ernsthafte Aussichten im Duell mit dem Titelverteidiger zu. Der Grund war simpel: Neuseeland ist das bei weitem bessere Team. Nicht wenige meinen: dies sind die besten All Blacks aller Zeiten. Alleskönner, die von niemandem zu stoppen sind. Die Zahlen unterstreichen das. Seit 2011 hat Neuseeland gerade drei Spiele verloren. Tritt das vom bereits jetzt legendären Kapitän Richie McCaw orchestrierte Uhrwerk zu einem Match an, beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass es dieses auch gewinnt, weit über 90 Prozent.

Südafrika könnte es schaffen, sollte X eintreten. Oder Y. Regenwetter zum Beispiel, das das auf Präzision und den schnellen Ball bauende neuseeländische Spiel irritieren könnte. So etwa, klangen Prognosen, die den Außenseiter nicht von vorne herein vollkommen abschreiben wollten. Und auch im südafrikanischen Lager selbst, war die Stimmungslage nicht etwa von Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten bestimmt, sondern eher von Hoffnung wider Erwarten.

Die andere Old Firm

Und doch, es handelte sich hier um ein Zusammentreffen zweier Rugby-Supermächte. Noch bis in die 1990er Jahre wiesen die südafrikanischen Springboks gegen alle anderen Mannschaften dieses Planeten eine postitive Testbilanz aus, Neuseeland inklusive. Tourende Teams, die auf dem Highveld von Johannesburg oder Pretoria aufzulaufen hatten, ließen zumeist bereits vor dem Anpfiff alle Hoffnung fahren. In ihrem Wohnzimmer galten die Springboks als nahezu unbesiegbar. Erst in den letzten beiden Jahrzehnten schlug das Pendel deutlich zugunsten des Erzrivalen aus. Vor dem weltmeisterlichen Halbfinale wies die Statistik bei insgesamt 90 Partien 35 südafrikanische Siege auf, was immerhin ein Erfolgs-Percentage von exakt 38,89 Prozent ergibt. Das kann gegen die All Blacks sonst niemand vorweisen.

Eine Überraschung wäre insofern überfällig, gingen doch sechs der letzten sieben Duelle an Neuseeland. Sollte sie gelingen müsste der Auswahl von Chefcoach Heynecke Meyer einiges gelingen: unter Druck die richtigen Entscheidungen treffen; sich bietende Gelegenheiten keinesfalls ungenützt verstreichen lassen; Ballkontrolle gewinnen, um so den Rhythmus des Matches selbst zu bestimmen – will heißen: das Tempo möglichst zu verschleppen.

Nach dem bisherigen Auftreten der All Blacks, die alle ihre Aufgaben in diesem Turnier mit Leichtigkeit zu lösen wussten und dem gleichzeitig erfolgten Rückzug Südafrikas auf einen relativ eindimensionales, von seinen kraftmeiernden Forwards dominierten Ansatz, erschien ein Gelingen beinahe unmöglich.

Nobles Streben

Doch Südafrika startete hoffnungsvoll, konnte das das Geschehen vor über 80.000 Zuschauern völlig offenhalten. Die Grundlagen stimmten, es gelang, den Gegner immer wieder in Regelübertretungen zu treiben. Insgesamt neun Penalties fingen sich die Neuseeländer in Halbzeit eins ein. Und der blutjunge Fly-Half Handre Pollard hielt seine Nerven im Zaum und verwertete alle vier seiner Kicks auf das Goal. Der frühe Try Neuseelands durch Jerome Kaino war damit mehr als egalisiert.

Das bestens bestehende Pack der Springboks konnte Scrum-Half Fourie Du Preez zudem wiederholt mit einer sehr brauchbaren Plattform für eigene Initiativen versorgen. Neuseeland wusste mit seinem klaren Überhang an Ballbesitz nicht viel anzufangen.

Kurz vor der Pause verabschiedete sich Kaino wegen absichtlicher Ballberührung in Abseitsposition frühzeitig in eine Zehnminuten-Strafe. Mit einer 12:7-Führung zur Halbzeit hatten die Boks ein Etappenziel gegen die traditionell im Finish einer Partie immer stärker werdenden All Blacks erreicht.

Südafrika vs. Neuseeland: Höhepunkte.
World Rugby

Der Regen setzte nun tatsächlich ein, und der Weltmeister kam mit Volldampf aus der Kabine zurück. Carter sorgte mit einem Dropkick in Unterzahl für Punkte. Der Druck auf die Südafrikaner stieg nun merklich und Beauden Barrett querte auch zum zweiten Versuch für Neuseeland. Innerhalb von zehn Minuten hatte sich das Defizit in einen Fünfpunkte-Überschuss verwandelt. Es kam knüppeldick für die Boks, als der so erfrischend aufspielende Pollard in der 65. Minute angeschlagen vom Feld musste.

Im Finish alles möglich

Doch die Südafrikaner blieben unerschütterlich, obwohl offensive Akzente nun kaum noch zu sehen waren. Pollards Ersatz Pat Lambie kam hervorragend aus den Startblöcken, setzte einen haarigen Kick in lebenswichtige Punkte um. Neuseeland, wiewohl überlegen, leistete sich weiter kleine Schlampigkeiten. Die Boks, bei denen nun auch Veteran Victor Matfield mitmischte, blieben in Schlagdistanz. Zwei Punkte trennten die müder werdenden Kontrahenten bei einem Zwischenstand von 20:18, als es in die finalen zehn Minuten ging.

Der nächste Strafkick konnte nun alles entscheiden, die Spannung war mit Händen zu greifen. Tief in eigenem Territorium kamen die Südafrikaner noch einmal in Ballbesitz, es brauchte nun einen Geniestreich. Oder ein Wunder. Neuseeland ließ beides nicht zu, administierte die verbleibenden Sekunden trocken herunter.

Der Titelverteidiger steht erneut (und insgesamt zum vierten Mal) im Endspiel, Südafrika kann die Weltmeisterschaft 2015 mit erhobenem Haupt zu den Akten legen. Auch wenn am Ende doch die Enttäuschung überwog. Meyer: "Wir haben es nicht geschafft. Knapp zu scheitern kann für die Boks niemals gut genug sein. Das Spiel um Platz drei ist, wie wenn du deine Schwester küsst." Der zweite Finalist wird am Sonntag bestimmt, die Kandidaten heißen Australien und Argentinien. (Michael Robausch, 24.10. 2015)