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Die Hadsch gehört zu den Pflichten der Muslime – auch der IS hält sich daran, wenn auch mit Restriktionen.

Foto: REUTERS/Ahmad Masood/Files

Es ist manchmal nicht ganz leicht, mit Geschichten umzugehen, die Gewissheiten durchbrechen. Sie verwirren, bringen geltende Narrative (Erzählweisen) über gewisse Tatbestände in Unordnung. Aber beweisen sie das Gegenteil? Nein, es wäre ein Fehler, aus ihnen radikal entgegengesetzte "Wahrheiten" abzuleiten. Man muss diese Geschichten auch manchmal einfach so stehen lassen können, als Hinweis, dass die Realität meist komplexer ist, als sie erzählt wird.

Die Nachrichtenagentur AP brachte vor ein paar Tagen so eine Story. Es geht darum, dass ein paar hundert ältere Männer und Frauen derzeit im Irak als eine neue Gruppe von IDP (Internally Displaced Persons) aufscheint, das, was wir "Binnenflüchtlinge" oder "Binnenvertriebene" nennen würden. Nur sind diese Leute keine Flüchtlinge, sondern würden gerne nach Hause zurückkehren, und dort wartet man auch auf sie. Aber die irakischen Behörden lassen sie nicht. Die Menschen können aber auch nicht so ohne weiteres anderswohin, denn sie haben ein Stigma. Sie sind Bürger und Bürgerinnen des "Islamischen Staates".

Es handelt sich um Pilger und Pilgerinnen, die aus den vom "Islamischen Staat" gehaltenen Gebieten zur islamischen Pilgerfahrt, zur Hadsch, nach Mekka gereist sind: in dem von AP erzählten Fall aus der seit Sommer 2014 besetzten zweitgrößten Stadt des Irak, Mossul. 580 Hadsch-Rückkehrer, die jetzt wieder nach Hause wollen. Es ist wohl so, dass der IS nicht pauschal verbieten kann, dass seine Bürger die islamische Pflicht erfüllen, der jeder gläubige Muslim mindestens einmal im Leben nachkommen sollte. Die Hadsch ist eine der "fünf Säulen" des Islam, und die gelten – neben einer weiteren, die die Jihadisten charakterisiert, nämlich dem kriegerischen Jihad – natürlich auch für die Radikalen des IS, gleich wer nun Mekka kontrolliert (das saudische Regime, das der IS ebenfalls stürzen will).

Pilgerfahrt nur für Ältere

Aber wenn die Hadsch möglich ist, besteht da nicht die Gefahr, dass dem "Islamischen Staat" die halbe Bevölkerung davonläuft mit der Entschuldigung, pilgern zu gehen? Diese Angst hat der IS offenbar sehr wohl. Das Terrorregime erließ deshalb Restriktionen: Nur Menschen über 60 durften fahren, der Rest der Familie, Kinder, Enkelkinder, blieb da. Und die Reisenden mussten auch noch unterschreiben, dass ihr Vermögen an den IS fällt, wenn sie nicht zurückkommen.

Die Pilger und Pilgerinnen wurden mit Bussen nach Bagdad eskortiert – was eine gewisse Kooperation der irakischen Behörden voraussetzt –, von dort flogen sie nach Saudi-Arabien. Und nun wollen sie zurück nach Mossul, sitzen jedoch in Kirkuk fest, weil die irakischen und kurdischen Behörden sich weigern, ihnen einen Korridor in die IS-gehaltenen Gebiete zu öffnen. Nach Bagdad, wo manche Familie haben, können sie auch nicht so einfach: Denn dort will man Flüchtlinge aus den IS-Territorien nicht haben, aus Angst vor der Infiltration durch den IS.

Waren- und Personenverkehr

Die IS-Gebiete waren nie ganz dicht, wie könnten sie, dort ist man ja auch nicht autark. Man hört immer wieder, dass teilweise der Handel mit Mossul und Umgebung umständlich, aber doch funktioniert: Waren kommen nach Mossul und verlassen Mossul. Auch ein gewisser Personenverkehr dürfte zumindest anfangs längere Zeit noch möglich gewesen sein. Das heißt aber auch: Nicht alle, die können, laufen davon, manche sympathisieren wohl tatsächlich, wieder andere finden sich ab, aus welchen Gründen auch immer.

Die AP betont, dass die festsitzenden Pilger nicht offen redeten, ihre Namen nicht nannten – aber alle hatten sie gemeinsam, dass sie nach Mossul zurückwollten. Einer sagte über die Situation dort: "Wenn wir sie in Ruhe lassen, dann lassen sie uns in Ruhe" (was eindeutig nur für einen Teil der Bevölkerung gilt). Ein anderer war verzweifelt, weil in dem Haus, das er vor seiner Abreise an den IS überschrieben hatte, seine ganze große Familie lebt: Was wird aus ihnen werden, wenn das Haus an den IS fällt? So sind die Menschen, sie sorgen sich um ihre Angehörigen, versuchen weiterzuleben, sogar unter einem Terrorregime wie dem "Islamischen Staat" – auch wenn man sich das von außen gar nicht vorstellen kann. (Gudrun Harrer, 22.10.2015)