Wien – "Haben Sie eine Erklärung, warum Sie so ausgerastet sind?", will Beate Matschnig, Vorsitzende des Geschworenengerichts, vom Erstangeklagten Klaudio K. wissen. "Keine Ahnung", lautet die Antwort des 20-Jährigen, der sich gemeinsam mit seinem Stiefvater wegen Mordversuchs verantworten muss. "Haben Sie Probleme gehabt?", bohrt Matschnig nach. "Ja." – "Womit?" – "Dem Leben. Wie es weitergehen soll."

Am Abend des 17. Mai führte das Leben K. und das 37 Jahre alte Opfer Franz F. in Wien-Ottakring zusammen. Für F. endete das mit Brüchen mehrerer Gesichtsknochen, neun Tagen im Spital und sechs Wochen Flüssignahrung. Staatsanwältin Tanja Pree wirft K. vor, seinen Kontrahenten mit Faustschlägen und Tritten malträtiert zu haben und ihm schließlich viermal auf den Kopf gesprungen zu sein.

Die Attacke gibt der Twen grundsätzlich zu, die Sprünge auf den Kopf bestreitet er aber. "Ich bin 90 Kilo schwer. Wenn ich ihm auf den Kopf gesprungen wäre, wäre er tot", argumentiert der Erstangeklagte. Auch sein Verteidiger Markus Tschank beteuert: "Er wollte dem Opfer eine ganz schwere Lektion erteilen, aber er hatte keine Tötungsabsicht."

Lachender Angeklagter

K. macht nicht unbedingt den besten Eindruck. Auf der Anklagebank verschränkt er immer wieder die Arme vor der Brust und schaut böse, bei der Befragung durch den Senat lacht er gelegentlich.

Das hat er auch bei der Untersuchung durch die psychiatrische Sachverständige Gabriele Wörgötter immer wieder gemacht. Und damals gesagt: "Wenn man es hundertmal erzählen muss, wird es komisch." Findet Matschnig nicht: "Es ist noch immer nicht komisch."

Begonnen hat der Vorfall in der U-Bahn-Station Ottakring. K. und sein Stiefvater Roman S. waren am Nachmittag samt dem zweijährigen Halbbruder an einer Tankstelle. "Wir haben jeder eine Flasche Wein getrunken", sagt der Erstangeklagte. Stunden später, gegen 19.15 Uhr, sei man in der Station gewesen, das Kleinkind habe geweint.

Plötzlich sei das Opfer gekommen und habe "Ich bin ein 37-Jähriger und will meine Ruhe" gesagt. Und: "Ich nehme ihm die Zunge heraus, wenn er nicht ruhig ist", behauptet der 20-Jährige. Anschließend habe sich der Unbekannte entfernt.

Wunsch nach Entschuldigung

"Und warum gehen Sie ihm dann nach?", interessiert die Vorsitzende. "Ich wollte, dass er sich entschuldigt." Laut Anklage hat er F. in der Nähe der Station zunächst von hinten angegriffen und über einen niedrigen Zaun gestoßen, ehe Prügel und Tritte folgten.

Das Stoßen bestreitet er: "Ich attackiere Menschen nicht von hinten", stellt er kategorisch fest. Außerdem habe auch F. ihn angreifen wollen. Auf dessen Kopf sei er – anders, als mehrere Zeugen behaupten – definitiv nicht gesprungen. Woher die massiven Verletzungen stammen? "Vielleicht von den Fäusten. Es kann auch sein, dass ich ihn mit den Tritten ein-, zweimal am Kopf erwischt habe." Sein Stiefvater habe lediglich "zwei Watschen" beigesteuert – es steht allerdings auch ein Tritt in den Nacken im Raum.

Der Auftritt des medizinischen Sachverständigen Christian Reiter sorgt dann für eine Überraschung. Denn er schließt aus, dass die Verletzungen durch Sprünge auf den Kopf verursacht wurden. Nur bei einer Verletzung findet er Spuren, die von einem Tritt herrühren könnten. Prinzipiell könne auch schon ein Kopftritt tödlich sein, im konkreten Fall sei es aber zu keinen lebensgefährlichen Verletzungen gekommen.

Die psychiatrische Expertin Wörgötter referiert, dass K. bei der Untersuchung unwillig und widersprüchlich gewesen sei und teils gelogen habe. Er sei eine unreife Persönlichkeit und "möchte gerne stark und wichtig sein". Möglicherweise habe er dem Stiefvater etwas beweisen wollen.

Noch keine Abartigkeit

Zurechnungsfähig sei der Erstangeklagte aber, auch für eine Einweisung reicht es nicht. "Eine Abartigkeit kann – ich betone – noch nicht festgestellt werden. Aber eine Therapie ist unbedingt notwendig", sagt sie über den wegen Diebstahls Vorbestraften.

Der Auftritt des Opfers ist kurz: Er kann sich an die Tat selbst nicht mehr erinnern. Er schildert, dass ihm die beiden Männer in der U-Bahn-Station beim Aufzug aufgefallen seien, als sie etwas gedeutet hätten.

Auf dem Bahnsteig habe ihn der Erstangeklagte dann auf Slowakisch angesprochen, er selbst habe gesagt, er spreche nur Deutsch, und sei gegangen. "Haben Sie ein Kind gesehen?", fragt Matschnig. "Ja, da war ein Kinderwagen, aber das Kind war ruhig."

Die Zeuginnen und Zeugen bleiben bei ihrer Darstellung, ein Wega-Beamter demonstriert sogar die Sprünge auf den Kopf.

Vier Jahre und zehn Monate Haft für Haupttäter

Am späten Nachmittag verkündet Richterin Matschnig das Urteil: Der 20-Jährige wird wegen Mordversuchs zu vier Jahren und zehn Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, sein Stiefvater, der ebenfalls zugeschlagen hat, wird wegen absichtlicher schwerer Körperverletzung zu zwei Jahren und acht Monaten Haft verurteilt. Die Urteile sind rechtskräftig.

Beide Männer wurden im Sommer in Leoben bereits wegen gewerbsmäßigen Diebstahls zu acht beziehungsweise zehn Monaten Haft verurteilt. Deshalb verhängt das Gericht nun Zusatzstrafen, die für den 20-Jährigen insgesamt 5,5 Jahre und für seinen Stiefvater insgesamt 3,5 Jahre Freiheitsentzug bedeuten. Dem Opfer wird ein Privatbeteiligtenbeitrag von 7.590 Euro zugesprochen. (Michael Möseneder, 21.10.2015)