Todd Haynes' Carol spielt wie beinahe alle Filme des 1961 geborenen US-Amerikaners in der Vergangenheit. Doch anders als in seinem Melodram Far From Heaven, das sich stark an Douglas Sirk orientierte, ist diese wunderbar filigrane Bearbeitung eines wenig bekannten, sehr persönlichen Patricia-Highsmith-Romans von einer Subjektivität, die sehr zeitgenössisch wirkt. Und zwar bis ins Formale hinein: Als Zuschauer teilt man den Blick von Therese (Rooney Mara), ihr Verlangen nach Carol (Cate Blanchett), für das sie kaum Worte findet.

Nach seiner Vorliebe für Stoffe aus der Vergangenheit gefragt, antwortet Haynes denn auch, dass ihn gerade die Sprachlosigkeit fasziniert habe: "Therese bewegt sich außerhalb der Sprache, sie erfindet sie erst, da es keine Repräsentation für das gibt, was sie fühlt. Sie muss ihre Gefühle erst zusammenfügen -- das ist so schön daran." Ein lesbisches Paar bewegte sich 1952 – in dem Jahr erschien der Roman – noch außerhalb jeder Mainstream-Kultur, selbst in einer progressiven Stadt wie New York.

Doch Carol ist nicht nur ein Film, der aufweist, welche Freiheiten für Homosexuelle seitdem gewonnen werden konnten. Für Haynes erzählt der Film auch von der Kraft jener Kritik, die mit Homosexualität einmal per se verbunden war – und zwar jener am Herrschaftsmodell. Es ging, so Haynes, nicht nur "um den Teil am Kuchen". Insofern erinnert der Viennale-Eröffnungsfilm auch an die Radikalität, die am Anfang jedes Kampfes für Gleichstellung steht. (Dominik Kamalzadeh, 21.10.2015)