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Renaldo Bothma (Mitte) nimmt sich etwas vor.

Foto: reuters/cziborra

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Einen Mamuka Gorgodze hält so leicht nichts auf.

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Ab sofort geht es bei der Rugby-Weltmeisterschaft in England ums Ganze. Unendlich schien die Vorrunde, alles andere hinter dem fernen Horizont von Irgendwann zu liegen. Doch nach etwa drei Wochen und 40 Gruppenspielen ist aus irgendwann jetzt geworden. Nicht nur, dass es nun Schlag auf Schlag geht – Viertelfinale, Halbfinale, Endspiel – das Turnier verändert auch in anderen Hinsichten seinen Charakter. In gewissem Sinn wird es eindimensionaler, je stärker der ultimative Preis, der Webb-Ellis-Pokal, in den Blick gerät. Vielfalt und Relativität von Ansprüchen und Zielen verschwinden mit den abreisenden Ausgeschiedenen.

Irlands Erfolg teuer erkauft

Am Wochenende klärten sich die letzten Dinge. Irland hatte in einer sehr physischen Zusammenkunft Frankreich am Sonntag letztlich sicher im Griff, siegte in Cardiff 24:9 (9:6). Das finale Match in Pool D entschied nicht nur über Platz eins in der Gruppe, es ging auch darum, das im Viertelfinale drohende Neuseeland zu vermeiden. Irland ist das gelungen, die Franzosen müssen dagegen in einer Neuauflage des Endspiels von 2011 gegen die All Blacks bestehen. Dass dies gelingen könnte, muss allerdings stark bezweifelt werden: zu bieder und spielerisch limitiert präsentierten sich die Blauen.

Keith Earls hatte in der ersten Halbzeit einen sicher scheinenden Try für den regierenden Six-Nations-Champion noch vermasselt. Von Tommy Bowe nach einem Lineout mit einem idealen Zuspiel versorgt, hüfpte dem Flügel der Ball auf wundersame Weise noch aus den Händen. Rob Kearney (50.) und Conor Murray (72.) holten das Versäumnis dann aber nach. Die Franzosen kamen zwei vergebene Penalties beim Stand von 0:0 teuer zu stehen.

Sehr bitter für Irland: Jonny Sexton musste nach eine halben Stunde verletzt vom Feld. Der Spielmacher und Meisterkicker war hart mit Louis Picamoles zusammengerasselt. Ein Ausfall des 30-Jährigen, der in 59 Tests 530 Punkte erzielt hat, wäre eine gravierende Schwächung. Auch Kapitän Paul O'Connell blieb zur Pause angeschlagen in der Kabine.

Der Samstag sah zwei ungemein enge Auseinandersetzungen, mit nichtsdestotrotz gänzlich unterschiedlicher Charakteristik. Schottland sicherte sich mit einem furiosen 36:33 (23:26) gegen Samoa in Newcastle seinen Platz im Viertelfinale – es war das Spiel mit dem zweithöchsten Score bisher. Australien erkämpfte, aufopferungsvoll verteidigend, gegen andrückende Waliser ein 15:6 (9:6) und gewann auch sein viertes Match – in Twickenham gelang keinem Team ein Try. Schotten und Wallabies treffen einander nun in der Runde der letzten acht, Wales muss mit Südafrika vorliebnehmen. Das bereits chancenlose England ging trutzig mit einem 60:3 (21:3) gegen Uruguay ab.

Irland vs. Frankreich: Höhepunkte.
World Rugby

Nach den bisherigen Eindrücken spricht wenig dafür, dass die Vorherrschaft der südlichen Hemisphäre gebrochen werden könnte, die sechs von bisher sieben Weltmeistern stellt. Diesmal kommt mit Argeninien gar noch ein ganz heißes Eisen dazu. Ein Halbfinale ohne europäische Beteiligung ist nicht unwahrscheinlich. Wales wirkt von den Vertretern des alten Kontinents am kompaktesten. Das Team ist gefestigt, physisch wie mental zu vielem bereit. Der ausgefuchste Chefcoach Warren Gatland ist ein Mann, der weiß, was zu tun ist. Auch Irland könnte liefern. Man wird sehen.

Womöglich hat das Turnier jetzt, da die alten Mächte wieder unter sich sind, seinen schönsten Abschnitt bereits hinter sich. Jedenfalls trifft das hinsichtlich seiner Vielfalt in globalem Maßstab zu, deren Repräsentation doch das vornehmste Privileg so einer Weltmeisterschaft darstellt. Dass sich dieses noch dazu als ein sehr vergnügliches herausstellte, ist den Verabschiedeten zugute zu halten. Sie, die kleineren Nationen, zeigten, dass sie mitnichten bloßes Beiwerk, sondern integraler Bestandteil einer vitalen Rugby-Gemeinschaft sind. Das ging gleich am ersten Wochenende los, als Japan, das unmöglich Scheinende möglich machend, den zweifachen Champion Südafrika düpierte. Die Sensation löste eine beispiellose Welle der Begeisterung aus und beim nächsten Match der Tapferen Blüten, sahen 24 Millionen Landsleute vor dem Fernseher zu – ein neuer Rekord.

Die Kleinen recht groß

Aber auch die Mannschaften aus Georgien, Namibia, Kanada, Rumänien oder Uruguay hatten ihre Momente, schrieben mit an der Saga von 2015. Das frühe Ausscheiden Englands, das als erster Gastgeber das Viertelfinale verpasste, konnte dem World Cup nichts anhaben. Dass es im Gegenteil rasch als nicht mehr als eine eine Fußnote erschien, ist der beste Beweis dafür, wie unterhaltsam und vielfältig die Geschehnisse sich entwickelten. Die Stimmung blieb bestens, die Stadien quer über das Land voll. Egal, wer da auch auf dem Rasen stand, man zelebrierte ganz einfach die Begeisterung für den Sport.

So ist das bestbesuchte WM-Spiel aller Zeiten nun eben eine Begegnung zwischen Irland und Rumänien: 89.267 Menschen in Wembley schauten zu. Der Superlative nicht genug, legten die wackeren Rumänen auch gleich noch das größte Comeback in der RWC-Geschichte nach, als sie in ihrem Match gegen Kanada einen 0:15-Rückstand in dramatischer Weise noch in ein 17:15 verwandelten. In buchstäblich letzter Minute behielt Florin Vlaicu die Nerven und verwandelte den entscheidenden Penalty.

Rumänien vs. Kanada: Höhepunkte.
World Rugby

Uruguay musste in der beinharten Gruppe A zwar vier hohe Niederlagen hinnehmen, die befürchteten Zusammenbrüche blieben aber aus. Die Amateure aus Südamerika präsentierte sich wagemutig und gut geordnet, gegen Wales und Fidschi mussten sie in der zweiten Halbzeit gar weniger Punkte hinnehmen als in der ersten – das ist aller Ehren wert, zieht man den nach wie vor eklatanten Vorsprung der besten Teams, was Fitnesslevel und Kadertiefe betrifft, in Betracht.

Es sieht so aus, als wäre das 20er-Feld doch enger zusammengerückt, groteske Ergebnisse mit dreistelligen Scores sind glücklicherweise nicht mehr möglich. Man kann nur hoffen, dass dies mehr ist, als eine Momentaufnahme und sich die Unterstützung des Rugby-Weltverbandes für nachrückende Nationen (Finanzierung von Coaches, Entwicklung von Trainingsprogrammen) nachhaltig bezahlt macht.

Namibia hat von insgesamt 19 WM-Matches zwar noch immer keines gewinnen können, nach dem 16:17 gegen Georgien aber zumindest seinen allerersten Punkt. Neben dieser Begegnung waren die Afrikaner an einem weiteren höchst sehenswerten Treffen beteiligt: einem wilden, offenen Hin und Her gegen Tonga. Allein dem Betreuerstab der Polynesier dürften die Grausbirnen aufgestiegen sein, angesichts von zum Teil haarsträubenden Nachlässigkeiten, mit denen ihre Schützlinge das Spektakel (35:21) überhaupt erst möglich gemacht hatten. Namibia legte drei Tries – ein weiterer hätte da bereits die Punktelosigkeit beenden können.

Babyface und Gorgodzilla

Im Schnitt gelingen dem Team mit der schlechtesten Weltranglisten-Position aller Teilnehmer (20) exakt 1,17 Versuche pro WM-Spiel, daran konnten auch die All Blacks nichts ändern. Johan Deysel hieß der Mann, der sich gegen die Nummer eins der Welt in die ganz große Auslage schmiss. Und auch andere, einer breiteren Öffentlichkeit nicht so vertraute Namen, bekamen ein Gesicht. Im wahrsten Sinn des Wortes galt das für den nach dem Rendezvous mit den Kiwis (14:58) schwer gezeichneten Kapitän Jacques Burger.

Renaldo Bothma, ein kampfeslustiger Blondschopf mit pausbäckigem Kindergesicht, faszinierte mit einer jederzeit am Anschlag befindlichen Arbeitsauffassung. Die Nummer 8 Namibias platzte geradezu vor Tatendrang. Um den Fokus auch ganz sicher nicht zu verlieren, hatte Bothma einen kurz und bündigen Game Plan auf seine Unterarm-Bandage gekritzelt: Smash.

Georgien vs. Namibia: Höhepunkte.
World Rugby

Die Georgier wiederum, hatten gegen Tonga um ihr Leben gefightet und ein Match für sich entschieden, in dem außer dem Resultat (17:10) alle statistischen Eckdaten gegen sie sprachen. Über 200 Tackles brachte das Team an den Mann, eine im internationalen Rugby ganz außergewöhnlich hohe Zahl. 24 davon gingen auf das Konto von Mamuka Gorgodze, einem weiteren frühen Protagonisten dieser Weltmeisterschaft.

Der 31-Jährige ist zwar besonders gut darin, unnachgiebig Breschen in Verteidigungsreihen zu schlagen, hat aber auch aus turmhohen Höhen clever über die Köpfe der Gegner gelobbte Schupfer im Repertoire. Von Gorgodze inspiriert, entwickelte das georgische Maul einen Schub von beinahe südafrikanischer Qualität. Nach seiner beeindruckenden Vorstellung gegen Neuseeland feierte man ihn als "Man of the Match". Gorgodzilla nennen sie den Dritte-Reihe-Stürmer (1,96m/118 kg), der immer kühlen Kopf bewahrt und als beinahe freundlicher Riese erscheint.

Mit Platz drei in Pool C schafften die Georgier erstmals die direkte Qualifikation für die kommende Endrunde, mit entsprechend großem Bahnhof wurde die Auswahl bei ihrer Rückkehr nach Tiflis willkommen geheißen.

Ambition in der Sackgasse

Gerade Georgien ist aber auch ein Paradebeispiel dafür, wie strukturelle Hürden nach wie vor ein Aufschließen zur Weltspitze erschweren. So hat das Land auf absehbare Zeit keine Aussichten auf eine Teilnahme an den autonom verwalteten Six Nations, kontinuierliche sportliche Herausforderung auf höchstem Niveau ist damit weiterhin unmöglich. Die Georgier müssen sich mit dem European Nations Cup zufrieden geben, der Veranstaltung für Rest-Europa, die sie in den vergangen acht Jahren siebenmal für sich entschieden haben. Weitergehende Ambitionen laufen ins Leere oder sind auf das Goodwill einer Elite angewiesen, die das Selbstverständnis eines Gentleman’s Club immer noch nicht ganz abgelegt hat. (Michael Robausch, 11.10. 2015)