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Ein kleines Schlauchboot nähert sich der Küste von Lesbos. 200.000 Flüchtlinge kamen laut UN heuer bereits auf der griechischen Insel an.

Foto: EPA / ZOLTAN BALOGH

Sie nennen es Durchbruch oder Neubeginn. Erst einigte sich die Mehrheit der EU-Innenminister, 120.000 in Italien und Griechenland angekommene Flüchtlinge "ausnahmsweise und vorübergehend" auf alle EU-Länder umzuverteilen. Dann beschlossen die Staats- und Regierungschefs Maßnahmen zur Eindämmung der Migration aus Afrika und dem Nahen Osten in die EU. So sollen das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen und die Nachbarstaaten Syriens mehr Geld erhalten, um Flüchtlinge in der Region besser zu versorgen. Zudem will man mit der Türkei bei der "Steuerung der Migrationsströme" enger zusammenarbeiten. Ob die zu schaffenden EU-Aufnahmezentren in Italien, Griechenland und Bulgarien zu einer besseren und schnelleren Versorgung von Geflüchteten innerhalb der EU beitragen, bleibt abzuwarten.

Diese Schritte sind mehr als nichts. Sie täuschen aber nicht über die nach wie vor ungenügende Seenotrettung im Mittelmeer, in Tränengasnebel gehüllten Stacheldraht an der ungarisch-serbischen Grenze und den grundsätzlich fehlgeleiteten Ansatz, Schutzbedürftige von der EU fernzuhalten, hinweg. Für die normative Großmacht EU, die globalen Einfluss durch glaubhaftes Eintreten für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit erlangen will, sind sie schlichtweg zu wenig. Um ihrem eigenen Anspruch zu genügen, muss sie Schutzsuchenden stattdessen eine sichere und legale Einreise sowie Zugang zu geordneten und zügigen Asylverfahren ermöglichen. Dafür verfügt sie über die nötigen administrativen, finanziellen und zivilgesellschaftlichen Ressourcen. Dementsprechend sollten die EU-Staats- und Regierungschefs bei ihrem formellen Migrationsgipfel kommende Woche dringend nachlegen.

Sichere Wege in die EU

Konkret bedeutet das, gemeinsam finanzierte und mit EU-Beamten besetzte Aufnahmezentren nicht nur in den gegenwärtigen Transitländern aufzubauen, sondern auch an internationalen Flughäfen im gesamten Schengen-Raum. Gleichzeitig muss die EU-Richtlinie 2001/51/EG so überarbeitet werden, dass Fluggesellschaften für die Beförderung Schutzbedürftiger nicht länger haften. Zudem sollte die EU die Nachbarländer Syriens entlasten, indem sie verstärkt Flüchtlinge ausfliegt und entsprechend dem von der EU-Kommission entwickelten Schlüssel verpflichtend auf die Mitgliedstaaten verteilt.

So würden Flüchtenden sichere Wege in die EU eröffnet, ihnen die Schlepperei erspart und Todesfälle vermieden. In diesem Zusammenhang müssen sich die EU-Innenminister außerdem überlegen, wie sie Verfahren zur legalen Einwanderung nicht nur bereits von EU-Unternehmen angeworbenen Spitzenkräften, sondern allen nach der Entfaltung ihrer Talente strebenden Migrantinnen und Migranten öffnen wollen. Künftige Rentnergenerationen werden es ihnen danken.

Eine Herausforderung

Würde ein solches Paket die EU überfordern? Wohl kaum. Im ersten Halbjahr 2015 kamen weniger als ein(e) Asylsuchende(r) auf tausend EU-Bürgerinnen und EU-Bürger. In Ungarn waren es vier, in Österreich weniger als zwei. Wer will angesichts dieser Zahlen wirklich von einer Schwemme sprechen? Die vielen hilfsbereiten Bürgerinnen und Bürgern Wiens, Münchens und weiterer Städte scheinen jedenfalls anderer Meinung und auch die einigermaßen reibungslose Erstaufnahme am Münchener Hauptbahnhof deutet darauf hin, dass eher der politische Wille als die materiellen Ressourcen einer menschenwürdigen Migrationspolitik im Wege steht. Natürlich ist die Aufnahme hunderttausender Flüchtlinge eine Herausforderung. Diese könnten die EU-Staaten aber auch selbstbewusst angehen, statt sich ängstlich zu verkriechen und aneinander schadlos zu halten.

Keine Integrationsrückschritte

Ein solches Paket könnte, im Gegenteil, grundsätzlich proeuropäischen Regierungen und Parteien erlauben, die Handlungsfähigkeit der EU zu beweisen und europäische Integration gleichzeitig wieder als das zu präsentieren, was sie im Idealfall ist: die beste Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung. Denn die von euroskeptischen Rechtspopulisten propagierte Alternative der nationalen Einigelung wird Migrantinnen und Migranten nicht daran hindern, ihr Glück zu versuchen. Sie wird lediglich mehr Tote produzieren, die Werte der Aufklärung verraten und Europa auf Kosten seiner Bürgerinnen und Bürger verzwergen.

Denn je salonfähiger Integrationsrückschritte werden, desto weniger wird die EU in der Lage sein, zum Nutzen ihrer Bürgerinnen und Bürger zusammenzuarbeiten. Wenn wir also wirklich europäische Werte und unsere Identität als Hüter von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten verteidigen wollen, sollten wir eine durch ordentliche Verfahren und menschenwürdige Behandlung von Schutzsuchenden geprägte EU-Migrationspolitik anstreben, statt uns von nationalchauvinistischen Nicht-Lösungen in die Irre führen zu lassen. Das haben wir doch drauf! (Lukas Hakelberg, Zoe Lefkofridi, 9.10.2015)