In den vergangenen Tagen, insbesondere nach dem jüngsten EU-Gipfel, erscheint der ungarische Ministerpräsident in manchen politischen Kreisen wie in Teilen der europäischen Bevölkerung als der "Retter Europas". Als hätte er allein die dramatische Eskalation der Flüchtlingsströme vorausgesehen und für ihre Behandlung konkrete, die christlichen und europäischen Grundwerte verteidigende Schritte gefordert und in Ungarn in die Tat umgesetzt. Hinter diesem Schein steckt jedoch eine ganz andere, für die wirklichen europäischen Werte lebensgefährliche Realität.

Ähnlich wie andere europäischen Politiker hat Viktor Orbán die Dramatik der Lage weder rechtzeitig noch in ihrem tatsächlichen Umfang erkannt. Monate vor der Eskalation der gegenwärtigen Situation hat er in den "Migranten" einen neuen Feind für Ungarn und die ungarische Bevölkerung gefunden, um seine auf mehrere Jahre zurückgehende Feindbildpolitik fortzusetzen und dem erheblichen Popularitätsverlust seiner Partei (und Regierung) entgegenzuwirken.

Diese Feindbildstrategie ist im ständigen ungarischen "Freiheitskampf" gegen den IWF, ausländische Banken und das Finanzkapital, fremde Ausbeuter in ausgewählten Wirtschaftssektoren (Dienstleistungen, Einzelhandel) und nicht zuletzt gegen Brüssel schon seit Jahren zum Ausdruck gekommen.

Die Migrationspolitik der ungarischen Regierung unterscheidet sich von den Wesenszügen der meisten anderen EU-Länder, die weit höhere Lasten auf sich genommen haben als Ungarn.

  • Erstens hat die ungarische Regierung bereits vor der Eskalation der Flüchtlingskrise eine bewusste und abscheuliche Hasskampagne gegen "Migranten" begonnen. Ein Teil davon bestand im Versenden von acht Millionen Fragebögen an jeden ungarischen Bürger mit bewusst manipulierten Fragen über die Meinung der Ungarn über "Migranten" – mit praktisch vorweggenommenen Antworten. Der ausgefüllte Fragebogen wurde von etwa 15 Prozent der Bevölkerung zurückgeschickt (die meisten haben sich an dieser mentalverschmutzenden Kampagne bewusst nicht beteiligt, sondern die unausgefüllten Fragebögen gesammelt, gebündelt und der Regierung zurückgeschickt).

Suggestivfragebogen

Die meist bejahenden Antworten der gültigen 15 Prozent (größtenteils "Orbán-Gläubige") wurden von der Regierung zum Anlass genommen, eine zweite Front zu öffnen: eine kontinuierliche Plakatkampagne, die im Namen des ungarischen Volks (15 Prozent!) geführt wird und die "Migranten" als eindeutige Gefahr für die ungarische Gesellschaft darstellt. Falls sie nämlich nach Ungarn kämen, würden sie Ungarn die Arbeitsplätze wegnehmen, Krankheiten verbreiten, stehlen, rauben, töten. Sowieso seien sie schlicht "Terroristen".

Dass die ungarische Wirtschaft wegen der Abwanderung (der ungarischen [E]migration) in den vergangenen Jahren etwa eine halbe Million meist talentierte, mobile und anpassungsfähige Arbeiter verloren hat oder dass bisher nur Ungarn andere Ungarn bestohlen, beraubt oder gar ermordet haben, bleibt selbstverständlich unerwähnt – leider auch in der kaum existierenden Kampagne der schwachen und gespaltenen Opposition.

  • Zweitens war und ist die ungarische Verwaltung auf die Behandlung der Flüchtlingskrise überhaupt nicht vorbereitet. Ungarn ist das einzige Schengenland mit vier unterschiedlichen Staatsgrenzen: drei Schengengrenzen (Österreich, Slowakei, Slowenien), zwei EU-Grenzen mit Nicht-Schengen-Mitgliedern (Kroatien und Rumänien), eine Grenze zu einem EU-Kandidatenstaat (Serbien) sowie eine zur Ukraine (ohne Beitrittsperspektive, zumindest gegenwärtig). Als Ungarn Schengenland wurde, hat man erhebliche EU-Gelder für die Ausgestaltung einer effizienten Grenzverwaltung erhalten. Was mit diesen Geldern und wie finanziert wurde, bleibt ungewiss. Darüber hinaus hat die 2010 an die Macht gekommene Regierung (mit Zweidrittelmehrheit im Parlament) die frühere Verwaltung auf allen Ebenen (von der staatlichen bis zur lokalen) grundlegend ausgewechselt und mehr und mehr mit "Parteisoldaten" aufgefüllt.
  • Drittens blieb Orbán seiner "Migrationspolitik" auch in der inhumanen Behandlung der Flüchtlinge treu. Wenn Flüchtlinge betreut wurden, geschah dies durch private Organisationen und die spontane Hilfe ungarischer Bürger. Offizielle Organe waren nicht zu sehen, und wenn als Kontrolleure der Helfer und Behinderer der privaten Hilfeleistungen. Ebenso haben sich die hochsubventionierten Kirchen durch ihr Fernbleiben ausgezeichnet.

Klarer Widerspruch

  • Viertens hat Orbán einen Stacheldraht errichten lassen und den Ausnahmezustand in bestimmten, von den Flüchtlingsströmen erfassten Komitaten ausgerufen. Diese Maßnahmen stehen im klaren Widerspruch zu den europäischen Grundwerten, die er angeblich verteidigen möchte.
  • Fünftens wurde die einfachste und einseitigste "Methode" im Management der Krise gewählt: Da Ungarn außerstande war, die Herausforderungen in Zusammenarbeit mit der Europäischen Gemeinschaft (EU; Serbien und Mazedonien; nach der Errichtung des Stacheldrahts auch Kroatien) unter Kontrolle zu halten, hat es einfach die Grenzen geöffnet und den Flüchtlingsstrom, die finanziellen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Lasten sowie die längerfristigen Folgen potenzieller Integration dieser Menschenmassen auf die Nachbarländer (vor allem Österreich und Deutschland) abgewälzt.

Wenn man noch berücksichtigt, dass freier Grenzübergang nicht nur den erst angekommenen Flüchtlingen gewährt wurde, sondern gleichzeitig auch die seit längerer Zeit funktionierenden und überfüllten Flüchtlingslager (Debrecen und Bicske) geöffnet und in sehr kurzer Zeit "entvölkert" wurden, kann man noch größere Zweifel über das EU-konforme Verhalten der ungarischen Regierung hegen.

Lädiertes Ansehen

  • Sechstens ist es klar, dass das internationale Ansehen Orbáns und seiner Regierung, das bereits in der Vergangenheit stark abgenommen hat, weiter schwindet – sowohl bei EU-Partnern als auch in Nachbarländern, aber auch in Ländern, aus denen die Flüchtlinge kommen und das inhumane und gefühlsleere Handeln offizieller ungarischer "Migrationspolitik" erfahren konnten/mussten.

Höchstwahrscheinlich werden die Konsequenzen nicht auf der politischen Ebene bleiben, sondern – mit etwas Verspätung – erhebliche negative Folgen für die ungarische Wirtschaft haben, nicht zuletzt für die exportfähigen Klein- und Mittelunternehmen, die ihre ausländischen Absatzmärkte in den Nachbarländern haben. Eine weitere und heute noch nicht absehbare und abschätzbare Dimension stellen die psychologischen Folgen dar.

Es also ist grundlegend falsch, Orbán als "Retter Europas" zu betrachten. Vielmehr kann ihm die EU aufgrund seines langjährigen Verhaltens gegenüber Brüssel in der gegenwärtigen Krise keinen Glauben und kein Vertrauen schenken. Derjenige, der jahrelang die EU-Grundwerte außer Acht gelassen oder bewusst untergraben hat (von der ungarischen Verfassung über die Medien bis zur Gestaltung einer "illiberalen Demokratie"), kann kein "Retter Europas" sein. Im Gegenteil: Europa muss sich – will es weiterhin bestehen, sich weiterentwickeln, vertiefen, Herausforderungen stellen – selbst vor Orbán und seiner eindeutig unchristlichen und unmenschlichen Hass- und Hetzkampagne retten. (András Inotai, 7.10.2015)